Grenzüberschreitender Stromhandel zwischen Deutschland und seinen Nachbarländern in 2023. Bild: Energy-Charts

Deutschland: Ist 2023 erstmals seit 2002 Nettoimporteur - warum Stromimport jedoch nicht zwangsläufig Mangel bedeutet

(BJ) Erstmals seit 2002 dürfte Deutschland in diesem Jahr wieder in der Gesamtbilanz zum Stromimporteur werden; bis Ende November kamen per Saldo bereits rund 11 Terawattstunden (Milliarden Kilowattstunden, TWh) aus dem Ausland, das sind rund 2.7 Prozent des im gleichen Zeitraums verbrauchten Stroms. Im vergangenen Jahr noch hatte Deutschland in der Bilanz 28 TWh exportiert, in den Jahren 2015 bis 2018 waren es jeweils sogar rund 50 TWh.


Geht Deutschland also der Strom aus? Natürlich nicht. Die grenzüberschreitenden Lastflüsse ergeben sich in der Regel nicht aufgrund eines Mangels an heimischen Erzeugungskapazitäten, sondern aus der ökonomischen Logik heraus. „Die Importe und Exporte sind durch den gemeinsamen Strommarkt getrieben“, sagt Bruno Burger, Wissenschaftler am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) und dort unter anderem Entwickler der Plattform Energie-charts (energy-charts.info).

Im wesentlichen Day-Ahead-Markt
Das heisst: Wenn der Strom im Grosshandel in einem Nachbarland gerade billiger ist als in Deutschland und die Netzkapazität es erlaubt, dann wird Strom importiert. Zugleich werden Kraftwerke im Inland gedrosselt. Die grenzüberschreitenden Lastflüsse werden im wesentlichen durch den Day-Ahead-Markt der Strombörse festgelegt, an dem jeweils am Vortag die Marktpreise für jede einzelne Stunde ermittelt werden. Damit ergibt sich für jedes steuerbare Kraftwerk jeweils am Mittag der Fahrplan für den kommenden Tag.

Weitaus vielschichtiger
Durch solche Markteffekte kam es dazu, dass Deutschland von April bis Oktober in allen Monaten bilanziell zum Importland wurde. Der November war dann allerdings wieder ausgeglichen. Stromimport im Sommer ist für Deutschland zwar nicht ungewöhnlich, doch die Mengen waren in diesem Jahr deutlich grösser als früher. Der Wegfall der deutschen Atomkraftwerke Mitte April mag als ein Faktor zu manchen Stunden den grenzüberschreitenden Lastfluss beeinflusst haben, doch die Parameter, die über Import und Export entscheiden, sind weitaus vielschichtiger.

Wenn Frankreich heizt
Zum Beispiel spielt auch das Wetter eine erhebliche Rolle. Nicht nur das Angebot an Strom aus Erneuerbaren in den einzelnen Ländern prägt das jeweils nationale Preisniveau am Spotmarkt und damit die Exporte, sondern auch die herrschende Lufttemperatur. Ein drastisches Beispiel ist immer wieder Frankreich während der Heizperiode: „Für jedes Grad, um das es kälter wird, steigt die Last im französischen Stromnetz um 2.5 Gigawatt“, sagt ISE-Forscher Burger. Das liegt daran, dass Frankreich in grossem Stil mit Strom heizt – und zwar oft direkt, nicht mit Wärmepumpe.

Für jedes Grad 1 AKW
Das heisst: Für jedes Grad, um das die Aussentemperatur sinkt, muss in Frankreich die Leistung von zwei Atomkraftwerken zusätzlich bereitgestellt werden. Frankreich lebt daher seit Jahren damit, dass bei extremer Kälte zumindest regional Stromknappheit auftritt. Da Deutschlands Stromwirtschaft aufgrund anderer Heizsysteme deutlich weniger thermosensibel ist, hilft das Land in solchen Situationen mit seinen Kohlekraftwerken aus und wird damit oft zum Stromexporteur. Man konnte dieses Phänomen in den letzten Jahren immer wieder beobachten: Wenn es kalt wurde in Mitteleuropa, erzeugte Deutschland mit seinen fossilen Kraftwerken auch Strom für Nachbarländer. In milden Wintern hingegen hat Frankreich oft Überschuss an Atomstrom und bietet diesen dann so billig an, dass Deutschlands fossile Kraftwerke preislich nicht mehr mithalten können. Also wird Deutschland dann zum Importland – womit die eigenen Kraftwerke ungenutzt bleiben.

Niedrigste Kohleverstromung seit 1955
Diese Wechselwirkungen zwischen den Ländern zeigen, dass es mitnichten ein Mangel an Kraftwerken ist, der Deutschland im Jahr 2023 erstmals seit 21 Jahren wieder zum Nettoimporteur machen wird. Zumal Deutschland, wie Bruno Burger recherchiert hat, in diesem Jahr die niedrigste Kohleverstromung seit 1955 erreichen könnte – auch wegen der oft hohen Temperaturen, etwa im rekordmilden September. Speziell im zweiten und dritten Quartal war die Stromerzeugung aus fossilen Energien jeweils extrem gering – unterboten nur noch vom zweiten Quartal 2020, das durch den Corona-Lockdown geprägt war.

Komplexe Fragestellung
Zum Politikum wird in Deutschland angesichts des vollzogenen Atomausstiegs inzwischen vor allem eine Frage: Aus welchen Ländern drängt nun der Strom nach Deutschland und wie setzt sich der Strommix der Importe zusammen? Man kann es bereits vermuten: Die Fragestellung ist komplex.

Das liegt erstens daran, dass es einerseits den physischen und andererseits den kaufmännischen Import und Export gibt. In der Gesamtbetrachtung der deutschen Importe sind die Mengen in beiden Fällen zwar identisch, doch bei der Betrachtung der einzelnen Länder können die Unterschiede erheblich sein. Ein Beispiel: Österreich kauft in Frankreich Strom, dann ist Deutschland Transitland. Kaufmännisch tauchen die Mengen in der deutschen Bilanz gar nicht auf, denn Deutschland kauft und verkauft in diesem Fall ja keinen Strom. Physisch schlagen die Mengen sich gleichwohl einerseits als Import aus Frankreich und andererseits als Export nach Österreich in der Statistik nieder.

Saldo kaufmännisch praktisch bei Null
Wegen solcher Transits flossen seit Jahresbeginn fast acht TWh physisch aus Frankreich nach Deutschland, zugleich wurden aber gut zwei TWh nach Österreich und mehr als sechs TWh nach Polen exportiert. Importiert Deutschland damit in der nationalen Bilanz Strom aus Frankreich? Physisch schon, kaufmännisch hingegen nicht, denn hier liegt der Saldo mit dem westlichen Nachbarn nach elf Monaten praktisch bei Null.

Dänemark vor Norwegen und Schweden
Eins solche Differenzierung ist bei den Analysen also entscheidend. „Wir betrachten die kaufmännische Bilanz“, sagt Solarforscher Burger, „denn mit dieser hängen ja auch die Geldströme zusammen.“ Strom, der nur im Transit durch Deutschland fliesst, bleibt folglich aussen vor. Kaufmännisch gesehen bekommt Deutschland den meisten Importstrom aus Dänemark; seit Jahresbeginn waren das mehr als elf TWh. Es folgen als nächste Lieferländer Norwegen, Schweden und die Niederlande mit Werten jeweils zwischen gut zwei und fast fünf TWh seit Jahresbeginn.

Aus dieser Länderbetrachtung lässt sich erschliessen, welchen Strommix der deutsche Importstrom zuletzt hatte. Exemplarisch hat Burger das für den August 2023 – den Monat mit Import-Spitzenwert – mal durchgerechnet: Deutschland habe im August im Saldo 5.8 TWh Strom importiert, davon hätten gut 56 Prozent aus erneuerbaren Energien gestammt, knapp 20 Prozent seien Atomstrom gewesen, rund 24 Prozent fossil erzeugter Strom. Burgers Fazit: „Der Anteil der importierten Kernenergie an der hiesigen Last – also der Summe aus Stromverbrauch und Netzverlusten – betrug 3.2 Prozent.“

Nüchterne Analysen statt plakativer Aussagen
Kritiker wandten daraufhin ein, man müsse Dänemark als Transitland sehen; der Strom, den Deutschland aus Dänemark kauft, stamme ursprünglich aus anderen skandinavischen Ländern. Also hat Burger auch diese Konstellation mal durchgerechnet. Doch das Ergebnis ist dann nur geringfügig anders: Die Erneuerbaren kommen unter dieser Annahme auf rund 57 Prozent, der Atomanteil des deutschen Importstroms steigt leicht auf 23 Prozent, die fossilen Energien sinken auf 19 Prozent. „Der Anteil der Kernenergie an der Last verschiebt sich von 3.2 auf 4.2 Prozent“, sagt Burger – also ergibt auch diese Kalkulation keinen so entscheidenden Unterschied. Fazit des Freiburger Wissenschaftlers: Grob gerechnet könne Deutschland bei seinem Importstrom derzeit einen Mix mit 60 Prozent Erneuerbaren, 20 Prozent Atomstrom und 20 Prozent Fossilen annehmen.

Schwieriger zu beantworten sei unterdessen die Frage nach den Kosten und Erlösen durch Importe und Exporte, sagt Burger. Diese transparenter zu machen, daran arbeite man noch. Denn auch hier sind nüchterne Analysen statt plakativer Aussagen gefragt.

energy-charts.info >>

©Text: Bernward Janzing

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