Das Dorf Erto in den italienischen Alpen war von der Katastrophe von Vajont unmittelbar betroffen. Foto: Shutterstock

Bei der MPM-Methode wird das untersuchte Material (Lockergestein, Festgestein, Wasser) gedanklich in kleine Elemente zerlegt, die dann einzeln charakterisiert werden. Grafik: Marc Kohler

Schematische Darstellung des Ringschergeräts, mit dem sich das Verhalten der Scherzone in Kriechhängen untersuchen lässt. Grafik: Institut für Geotechnik

Die Drohnenaufnahme zeigt in der Mitte den Kriechhang Marsc beim Luzzone-Stausee, der im ETHZ-Forschungsprojekt beispielhaft untersucht wurde. Foto: Institut für Geotechnik

Schnittbild durch den Kriechhang an der Talflanke des Luzzone-Stausees. Grafik: Marc Kohler

Darstellung von zwei Bohrungen, mit denen Lockergestein aus der Scherzone des Kriechhangs am Luzzone-Stausee extrahiert wurde. Grafik: Institut für Geotechnik

Die Grafik beruht auf einer Lockergesteins-Probe aus der Scherzone des Kriechhangs am Luzzone-Stausees, die im ETHZ-Labor untersucht wurde. Grafik: Marc Kohler

Die Grafik zeigt, dass sich der Kriechhang am Luzzone-Stausee unter dem Einfluss des starken Chichi-Erdbebens von 1999 in Zentral-Taiwan um rund 50 Zentimeter verschieben würde. Grafik: Marc Kohler

Die Grafik veranschaulicht die Wellenhöhe als Folge von Rutschungen, die beim Kriechhang am Luzzone-Stausee durch ein Erdbeben von der Stärke des Chichi-Erdbebens (Taiwan 1999) hervorgerufen würden. Grafik: Marc Kohler

ETHZ-Forschungsprojekt: Sicherheit von Stauanlagen - warum Erdmassen nicht so leicht abrutschen

(BV) Die Forschung zur Sicherheit von Stauanlagen ist eine Daueraufgabe. Eine neue Studie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ) hat untersucht, ob Erdrutsche als Folge von Erdbeben zu einem Überströmen von Staumauern und einer Gefährdung der talabwärts lebenden Menschen führen könnten. Die Fallstudie an einer Tessiner Stauanlage zeigt, dass geotechnische Gegebenheiten der Wahrscheinlichkeit einer solchen Katastrophe in bestimmten Fällen entgegenwirken. (Texte en français >>)


Wer die Gefahren der Bergwelt unterschätzt, der bezahlt mitunter ein hohes Lehrgeld. Das gilt auch für die Erbauer von Stauanlagen in den Alpen. Beim Bau des Damms für den Mattmarkstausee im Walliser Saastal forderte im August 1965 ein Abbruch von Teilen des Allalingletschers das Leben von 88 Arbeitern. Noch verheerender war die Katastrophe, die sich zwei Jahre zuvor im Nordosten Italiens beim Vajont-Stausee ereignet hatte: Bei einem Erdrutsch stürzten 270 Mio. Kubikmeter Gestein – fast das Doppelte des Stauvolumens – in den gefüllten Stausee. Eine gewaltige Flutwelle schwappte über den Staudamm und riss talabwärts im Städtchen Longarone und weiteren Ortschaften rund 2000 Menschen in den Tod, ohne dass die 260 m hohe Staumauer erheblichen Schaden nahm.

Mögliche Gefahr durch Erdbeben
Spätestens seit diesem Unglück sind die Gefahren bekannt, die von Erdrutschen bei Stauseen ausgehen. Um solche Katastrophen zu vermeiden, werden heute Gefahrenstellen überwacht. Dazu gehören sogenannte Kriechhänge: Das sind Erdmassen aus Lockergestein, die sich pro Jahr wenige Zentimeter bis mehrere Meter talwärts bewegen. Gefährlich wird es, wenn sich ein Kriechhang in einen Erdrutsch verwandelt und das Gestein schlagartig in den Stausee stürzt und dort eine Flutwelle erzeugt. Entlang der gut 200 Schweizer Stauseen gibt es nach Auskunft von BFE-Fachpersonen rund ein Dutzend Kriechhänge von nennenswerter Grösse. Diese werden heute mit erd- und satellitengestützten Monitoringsystemen überwacht, um gefährliche Entwicklungen frühzeitig zu erkennen. Zudem wird die Gefahr, die von den Kriechhängen für die Sicherheit der Stauanlagen ausgeht, regelmässig durch Fachleute beurteilt. Hierzu werden auch Berechnungen an geotechnischen und hydraulischen Modellen verwendet.

In den letzten Jahren richteten Sicherheitsverantwortliche ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf die möglichen Gefahren, die von Erdbeben für Stauanlagen ausgehen. Vor gut fünf Jahren initiierte Markus Schwager, Leiter des BFE-Forschungsprogramms Stauanlagensicherheit, zusammen mit Alexander M. Puzrin, Professor am Institut für Geotechnik der ETH Zürich, eine wissenschaftliche Untersuchung zu dem Thema. Seither ging Bauingenieur Marc Kohler in seiner Doktorarbeit der Frage nach, ob Erdbeben das Gefahrenpotenzial von Kriechhängen vergrössern und ggf. eine bisher unterschätzte Gefahrenquelle für Flutwellen darstellen. Die Ergebnisse des vom BFE unterstützten Forschungsprojekts liegen seit Frühjahr 2023 vor.

Hänge kriechen talwärts
Der zentrale Befund der Studie: Es deutet nichts darauf hin, dass die Gefährdung von Erdbeben bislang unterschätzt wird. Eher gilt das Gegenteil: Für den Kriechhang an der Flanke des Tessiner Luzzone-Stausees, der im Zentrum der Studie stand, ist die Gefahr sogar geringer als bisher angenommen. "Werden konventionelle Berechnungsverfahren auf Kriechhänge angewandt, ist bereits bei Erdbeben mittlerer Stärke von einer grossen Gefährdung durch Flutwellen auszugehen. Wir konnten jedoch zeigen, dass auch für starke Erdbeben solch ein Szenario unwahrscheinlich ist", fasst Kohler das Hauptergebnis seiner Studie zusammen.

Besonderes Interessen von sogenannte Scherzone
Die Einschätzung des ETHZ-Wissenschaftler beruht auf Computersimulationen sowie Feld- und Laboruntersuchungen. Er entwickelte ein Modell, welches das Verhalten von Kriechhängen im Erdbebenfall und die dafür relevanten Einflussgrössen abbildet (vgl. Textbox). Von besonderem Interesse war die sogenannte Scherzone: Das ist jene geneigte Fläche, über die der Hang langsam talwärts 'kriecht' – und die sich im ungünstigen Fall zu einer Gleitfläche für einen Erdrutsch verwandelt. Scherzonen haben unterschiedliche Materialzusammensetzungen, sind oftmals aber charakterisiert durch die feine Lockergesteinsfraktionen aus Ton und Silt, welche eine Rutschbewegung begünstigen. Neben dem Material ist der Wasserdruck in der Scherzone die zweite wichtige Einflussgrösse: In regenreichen Zeiten bewegen sich Kriechhänge merklich schneller.

Scherbewegungen im Laborgerät
Was im Innern eines Kriechhanges abläuft, lässt sich in der freien Natur schwer beobachten. Allerdings lassen sich die Veränderungen in einer Scherzone im Labor mit einem speziellen Gerät experimentell nachvollziehen: Das Ringschergerät imitiert den Vorgang des Scherens, der in der Natur als lineare Bewegung abläuft, mit einer kreisförmigen Bewegung. Dabei wird ein ringförmiges Volumen mit der Materialprobe gefüllt und anschliessend die untere Hälfte der Materialprobe durch eine Drehbewegung gegenüber der oberen Hälfte der Materialprobe verschoben.

Marc Kohler hat – gemeinsam mit einem Team des ETHZ-Instituts für Geotechnik – ein besonders leistungsfähiges Ringschergerät entwickelt. Mit ihm kann man besonders schnelle Scherbewegungen, wie sie bei Erdbeben auftreten, untersuchen. Wurden mit früheren Geräten langsame Schergeschwindigkeiten (0.01 bis 100 Millimeter/Minute) erforscht, ermöglicht die neue Apparatur die Untersuchung von schnellen Geschwindigkeiten bis zu 1 Meter/Sekunde. Mit diesem Gerät untersuchte Marc Kohler Material aus der Scherzone eines Kriechhangs an der Flanke des Luzzone-Stausee am oberen Ende des Tessiner Bleniotals. Das feinkörnige Material – ein Gemisch hauptsächlich aus Silt und Sand – wurde mithilfe von Kernbohrungen aus der Scherzone entnommen.

Keine generelle Entwarnung
Die Laboruntersuchung und die Modellierungen mit den Scherzonen-Proben aus Luzzone zeigen: Eine höhere Schergeschwindigkeit führt nicht etwa – wie oft befürchtet – zu einer Abnahme des Widerstandes, sondern zu einer deutlichen Zunahme. Dies hat zur Folge, dass bei starken Erdbeben (und der damit verbundenen höheren Kriechgeschwindigkeit) eine Art automatischer Bremsmechanismus wirksam wird, der die Rutschung schnell in den Ursprungszustand einer sehr langsamen Bewegung zurückführt. "Die Gefahr, die von Erdbeben ausgeht, ist damit tendenziell geringer als bisher schon angenommen", sagt Marc Kohler. Diese Aussage beziehe sich auf den untersuchten Kriechhang am Luzzone-Stausee, könnte tendenziell aber auch für viele andere, ähnlich aufgebaute Hänge gelten, betont der Forscher.

Alexander M. Puzrin, der die Doktorarbeit von Marc Kohler betreut, betont allerdings, die Erkenntnisse der neuen Studie dürften nicht als allgemeine Entwarnung verstanden werden. "Die Erkenntnisse zur Rutschung in Luzzone geben den aktuellen Wissenstand wieder. Geotechnische Problemstellungen, wie die einer alpinen Rutschung, sind äusserst komplex. Die vorliegende wissenschaftliche Arbeit beruht daher auf diversen Vereinfachungen und unterliegt grossen Unsicherheiten", sagt Puzrin. In künftigen Forschungsprojekten sollen unter anderem flache Hänge mit einer Scherzone aus feinem Tonmaterial genauer untersucht werden, da solche Materialien bei höheren Schergeschwindigkeiten dazu tendieren, Widerstand zu verlieren.

Vergleich mit starken Erdbeben
Im Fall des Luzzone-Stausees zeigen die Messungen der letzten Jahre, dass gemessene schwache Erdbeben die Bewegung des Kriechhangs nicht beschleunigt haben. Selbst von einem für die Schweiz ungewöhnlich starken Erdbeben ist laut Kohler gemäss aktuellem Wissensstand keine Katastrophe zu erwarten. Das zeigen Modellrechnungen, bei denen angenommen wurde, dass die Erde im Bleniotal so stark beben würde wie 2016 beim Norcia-Erdbeben in Italien (Magnitude 6.6) oder 1999 beim Chichi-Erdbeben in Zentral-Taiwan (Magnitude 7.3). In beiden Fällen wäre der Kriechhang gemäss Computersimulation nicht mehr als einen Meter talwärts gerutscht. Und die Wellen, die im Stausee durch das Erdbeben bzw. das abrutschende Lockergestein hervorgerufen würden, hätten nicht die Gewalt, um eine nennenswerte Zerstörung hervorzurufen.


Wie man Kriechhänge im Modell abbildet und simuliert

Zur Beschreibung der Wirklichkeit nutzt die Wissenschaft Nachbildungen (Modellierungen). Für die Modellierung von Kriechhängen wurde schon früh die sogenannte Newmark-Methode eingesetzt: Sie beschreibt die Erdmasse eines Hangs als festen Block, der auf einer schiefen Ebene nach und nach abrutscht. Ein realer Kriechhang ist in der Regel als Block unzureichend beschrieben, denn er weist eine deutlich komplexere Geometrie auf und ist charakterisiert durch verschiedene Lockergesteins-Arten, welche unterschiedliche Eigenschaften aufweisen. Um einen solchen 'instabilen' Hang zu beschreiben, wird heute die 'Material Point Method' (MPM) herangezogen. Die Rutschmasse, die stabile Unterlage sowie das Wasser des Stausees werden dabei in Millionen kleiner Elemente (sogenannte «Materialpunkte») zerlegt. Jedem dieser Elemente wird ein bestimmtes Materialverhalten zugeordnet, abhängig davon, ob es Fest- oder Lockergestein oder Wasser repräsentieren soll. Mit dem numerischen Modell lässt sich nun simulieren, wie sich der Hang unter bestimmten äusseren Einflüssen wie Regen oder eben Erdbeben bewegt. Wegen der grossen Anzahl der zu verarbeitenden Daten sind für die Berechnung Hochleistungscomputer erforderlich. Marc Kohler hat die MPM-Methode so weiterentwickelt, dass sich mit ihr das Verhalten von Kriechhängen unter dem Einfluss von Erdbeben untersuchen lässt.


  • Auskünfte zu dem Projekt erteilen BFE-Projektleiter Philipp Oberender (philipp.oberender@bfe.admin.ch) und Markus Schwager (markus.schwager@bfe.admin.ch), Leiter des BFE-Forschungsprogramms Stauanlagensicherheit.

  • Weitere Fachbeiträge über Forschungs-, Pilot-, Demonstrations- und Leuchtturmprojekte im Bereich Wasserkraft finden Sie unter www.bfe.admin.ch/ec-wasser.

Text: Benedikt Vogel, im Auftrag des Bundesamts für Energie (BFE)

Bei der MPM-Methode wird das untersuchte Material (Lockergestein, Festgestein, Wasser) gedanklich in kleine Elemente zerlegt, die dann einzeln charakterisiert werden. Grafik: Marc Kohler

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Schematische Darstellung des Ringschergeräts, mit dem sich das Verhalten der Scherzone in Kriechhängen untersuchen lässt. Grafik: Institut für Geotechnik

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Die Drohnenaufnahme zeigt in der Mitte den Kriechhang Marsc beim Luzzone-Stausee, der im ETHZ-Forschungsprojekt beispielhaft untersucht wurde. Foto: Institut für Geotechnik

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Schnittbild durch den Kriechhang an der Talflanke des Luzzone-Stausees. Grafik: Marc Kohler

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Darstellung von zwei Bohrungen, mit denen Lockergestein aus der Scherzone des Kriechhangs am Luzzone-Stausee extrahiert wurde. Grafik: Institut für Geotechnik

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Die Grafik beruht auf einer Lockergesteins-Probe aus der Scherzone des Kriechhangs am Luzzone-Stausees, die im ETHZ-Labor untersucht wurde. Grafik: Marc Kohler

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Die Grafik zeigt, dass sich der Kriechhang am Luzzone-Stausee unter dem Einfluss des starken Chichi-Erdbebens von 1999 in Zentral-Taiwan um rund 50 Zentimeter verschieben würde. Grafik: Marc Kohler

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Die Grafik veranschaulicht die Wellenhöhe als Folge von Rutschungen, die beim Kriechhang am Luzzone-Stausee durch ein Erdbeben von der Stärke des Chichi-Erdbebens (Taiwan 1999) hervorgerufen würden. Grafik: Marc Kohler

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Kriechhänge gibt es nicht nur bei Stauseen. Das aktuell wohl bekannteste Beispiel ist die Bündner Ortschaft Brienz. Foto: Shutterstock

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