Am Novatlantis Bauforum 2015 diskutierten Fachleute über die Trends und Herausforderungen beim nachhaltigen Bauen. ©Bild: Novatlantis

Bauforum Zürich: Lebensqualität vermitteln beim nachhaltigen Bauen

(PM) Ende August trafen sich über 100 Fachleute zumNovatlantis Bauforum 2015 an der ETH Zürich. Sie setzten sich mit der Frage auseinander, wie sich eine nachhaltige Stadt- und Quartierentwicklung gemeinsam mit der Bevölkerung realisieren lässt. Wie gelingt es, Bauwerke zu schaffen, die zukunftsfähig sind und die Menschen ansprechen. Klar wurde, dass es dazu viel Kommunikation braucht.


«Nachhaltigkeit macht heute keine Freude», konstatierte der Ökonom und Nachhaltigkeitsforscher Jürg Minsch in seinem Eröffnungsreferat – um gleich im nächsten Satz die zentrale Frage des diesjährigen Novatlantis Bauforum an der ETH Zürich zu stellen: «Wie schaffen wir es, die Gesellschaft zu öffnen für die notwendigen Veränderungen?» Das Konzept bedrohe bestehende Geschäftsmodelle und eingeschliffene Verhaltensweisen. Es gehe heute aber nicht mehr einfach darum, Bestehendes nachzubessern, sondern Neues zu schaffen. «Ich bin jedoch dagegen, dass man Innovationsparks auf der grünen Wiese erstellt – die Städte selber sollen Innovationsparks sein.»

Den Menschen etwas zutrauen
Die Techniken für eine nachhaltige Zukunft sind da, und sie werden sich durchsetzen, ist Minsch überzeugt. Aber die Bevölkerung müsse ehrlich einbezogen und nicht mit pro-forma Partizipationsveranstaltungen abgespeist werden. Kreativität, so Minsch, entfalte sich nicht in ordentlichen Bahnen. Daher forderte der Nachhaltigkeitsforscher die anwesenden Planerinnen und Planer auf: «Erlauben Sie Chaos und trauen Sie den Menschen etwas zu!»

Ernst Rainer fing den von Minsch geworfenen Ball auf. Der Architekt und Stadtplaner vom Institut für Städtebau der Technischen Universität Graz befasst sich mit sozialen Prozessen im Stadtraum. Aufgrund ihrer Bevölkerungsdichte hält Rainer die urbanen Ballungsräume für die wichtigsten Akteure bei der nachhaltigen Entwicklung: «Dort müssen die Lösungen entstehen, denn dort leben 70 Prozent der Bevölkerung Europas und entstehen 80 Prozent der CO2-Emissionen.»

Steigerung der Lebensqualität im Fokus
An erster Stelle einer intelligenten Stadtentwicklung, so Rainer, muss die Erhaltung und Steigerung der Lebensqualität der Menschen stehen. Der Stadtforscher zeigte auf, dass heute bereits viele Trends in die richtige Richtung weisen. So etwa wandle sich die Mobilitätshierarchie in vielen Städten, die Vorherrschaft des Autos neige sich dem Ende zu. Auch entdecken vielerorts Menschen den öffentlichen Raum und beleben ihn. Rainer rechnet fest damit, dass Menschen sich selber organisieren und nachhaltige Strukturen schaffen, wenn sie dazu einen geeigneten Rahmen vorfinden. Als hoffnungsvolles Zeichen wertet er insbesondere das Aufkommen von Bürgerinitiativen und Netzwerken, die derzeit in zahlreichen Metropolen entstehen und eine Lebensqualität schaffen, die sich nicht ausschliesslich am Konsum orientiert.

Informieren und Anreize schaffen
Eine traditionelle Form von Netzwerken stellen Vereine dar. Corinne Moser, Forscherin am Institut für Nachhaltige Entwicklung der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften untersucht, wie sich Vereine nutzen lassen, um Suffizienzmassnahmen umzusetzen. Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms NFP 71 >> erhob sie, wie aufgeschlossen die Menschen einem nachhaltigen Lebensstil gegenüberstehen. Die ersten Ergebnisse aus Winterthur, Baden und Zug zeigen, dass noch viel Überzeugungsarbeit nötig sein wird, um eine Mehrheit zu einem genügsameren Verhalten im Alltag zu motivieren.

«Viele der Befragten sind zwar bereit, ihr Verhalten im Gebäude anzupassen», sagte die Zürcher Forscherin, «etwa Stosszulüften statt Fenster gekippt zu halten oder die Raumtemperatur etwas abzusenken.» Weiterreichende Massnahmen, wie etwa den Raumbedarf zu reduzieren, lehnte eine Mehrheit jedoch ab. Dies zeigt beispielhaft, welche Hürden einer nachhaltigeren Gesellschaft noch im Weg stehen. Denn der Pro-Kopf-Wohnraumbedarf wuchs in der Schweiz zwischen 1980 und 2000 von 34 auf 44 Quadratmeter und stieg in den letzten Jahren weiter – mit entsprechenden Folgen für den Heizenergieverbrauch.

Betrieb optimieren
Von weiteren Hemmnissen für einen nachhaltigen Umgang mit Energie berichteten Koni Osterwalder und Urs Hugentobler. Die beiden planten und realisierten vor einigen Jahren in der Stadt Zürich ein fünfgeschossiges Minergie-Gebäude mit 13 Wohnungen. Als Pilotprojekt wurde das Gebäude mit einer fein verzweigten Messtechnik ausgerüstet, um den gesamten Energie- und Ressourcenfluss in Echtzeit zu erfassen. «Es ist entscheidend, nicht bloss ein nach allen Regeln der nachhaltigen Baukunst geplantes Gebäude hinzustellen, sondern es danach auch im Betrieb zu optimieren», sagte Osterwalder. So hätten die Messungen zu ihrer Verblüffung gezeigt, dass die Heizung mitunter auch bei Aussentemperaturen von über 20 Grad ansprang.

Sehr wichtig sei es ausserdem, die Bewohnerinnen und Bewohner eingehend zu informieren, wie die effiziente Haustechnik zu handhaben ist. Hugentobler forderte zudem, dass mehr Anreize geschaffen werden sollen, die energiesparendes Verhalten belohnen – und zwar nicht bloss für die Bewohnerinnen und Bewohner, sondern auch für Hausbesitzer und Verwaltungen. Aufgrund ihrer Erfahrungen sind Osterwalder und Hugentobler überzeugt, dass es sich lohnen würde, sämtliche neuen Gebäude mit mehr Sensoren auszustatten, damit die Bewohnerinnen und Bewohner laufend über die Energieflüsse informiert sind und ihr Verhalten entsprechend anpassen können.

Nutzerinteressen frühzeitig einbeziehen
Doris Ehrbar bestätigte die Bedeutung der Betriebsphase. «Es ist absolut notwendig, Bauprojekte nach der Schlüsselübergabe weiter zu betreuen», meinte die Architektin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Luzern. Die Spezialistin für Sanierungs- und Umbauprojekte weist jedoch darauf hin, dass auch schon beim Vorprojekt oder noch früher wichtige Weichen gestellt werden. Als Leiterin des Projekts SanStrat verfasste Ehrbar zahlreiche Fallstudien, die aufzeigen, wie bestehende Siedlungen – von der Wohngenossenschaft bis zum dörflichen Zentrum – nachhaltig saniert werden konnten. Als entscheidenden Erfolgsfaktor nennt Ehrbar den möglichst frühzeitigen Einbezug aller Akteure, um die Möglichkeiten für ein bestehendes Areal auszuloten und um Zielkonflikte zu erkennen und zu lösen.

Es brauche ausserdem einen offenen Dialog aller Beteiligten sowie konkrete Visualisierungen, um die Planung auf eine kooperative Art voranzubringen. Auf diese Weise können nachhaltige Projekte mit hoher Akzeptanz entstehen. «Leute, sprecht miteinander», bringt es Ehrbar auf den Punkt. In der Schweiz stammt etwa ein Viertel des Wohnbautenbestands aus den 1940er- bis 1970er-Jahren. Diese verbrauchen sehr viel Energie, und es ist vordringlich, sie energetisch zu sanieren, auch um den CO2-Ausstoss zu vermindern. Dabei gilt es, auf die Baukultur Rücksicht zu nehmen. «Es gibt kein Patentrezept», hält die Architektin fest. Individuelle Lösungen seien gefragt, um historische Substanz nachhaltig zu sanieren.

Flexibilität gefragt
Für Dialog und flexible Lösungen plädierte auch Jan Silberberger vom ETH-Wohnforum, der untersuchte, wie sich Investoren dazu bewegen lassen, ihre Projekte möglichst nachhaltig aufzustellen. Der Architekt nahm dazu aktuelle Projekte in mehreren Städten unter die Lupe. Silberberger ist überzeugt, dass aufgrund der Bevölkerungsentwicklung und dem steigenden Pro-Kopf-Wohnraumbedarf in den kommenden Jahren weiterhin massiv Wohnfläche geschaffen werden muss.

Im Projekt ANANAS >> stellte der Forscher 16 Prinzipien auf, wie sich Investoren für eine nachhaltige Nachverdichtung der Städte gewinnen lassen. Ein wichtiger Punkt ist, so der Architekt, dass sich die Behörden flexibel zeigen bei der Anwendung der Bauvorschriften. So konnte beispielsweise bei einem Hochhausbau in Basel dank dem Transfer der Brutto-Geschossfläche von benachbarten Parzellen Raum für einen öffentlichen Platz mitten im Zentrum gewonnen werden. Und in Zürich liessen sich bei einem Wohnprojekt mit der Zumietung von Parkplätzen in einer nahegelegenen Tiefgarage Pflichtparkplätze vermeiden, die aufgrund der guten Anbindung an den öffentlichen Verkehr unnötig sind und die Baukosten nach oben getrieben hätten.

Ein Fünftel weniger Gebäudeenergie
«Die Schweiz steht in den kommenden Jahren vor zwei grossen Herausforderungen», rundete der Empa-Forscher Matthias Koebel die Tagung in Zürich ab: Zum einen der Ausstieg aus der Kernenergie bis 2035, zum anderen die Halbierung der CO2-Emissionen bis 2030. Um diese beiden Ziele zu erreichen, braucht es wirksame Massnahmen im Gebäudebereich, da dieser nahezu für die Hälfte des Energieverbrauchs hierzulande verantwortlich ist. Das Fernziel besteht darin, so Koebel, den Energieverbrauch des Schweizer Gebäudebestands auf einen Fünftel zu reduzieren. Ein Ziel, das erreichbar ist, wenn es gelingt, die Bevölkerung für nachhaltige Wohn- und Lebensformen zu begeistern.

Zwei konkrete Angebote
Am Novatlantis Bauforum präsentierte die Stadt Zürich zwei konkrete Angebote und macht damit vor, wie der Dialog mit Gebäudenutzern funktionieren kann. Mit einem Energie-Coaching >> sprechen die Behörden Bauherren und Unternehmen an, um die Energieeffizienz beim Bauen und Sanieren zu steigern. Der Öko-Kompass >> ist wiederum ein Beratungsangebot für KMU, die sich unmittelbar an ihrem eigenen Standort informieren wollen, was sie konkret für die Umwelt tun und wie sie gleichzeitig ihr Portemonnaie entlasten können. Bereits profitierten rund 600 Betriebe von einer solchen Beratung.

Link zu den Präsentationen >>

Text: Novatlantis

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