Jürg Joss aus Bätterkinden im Kanton Bern setzt sich für eine Zukunft ohne Atomenergie ein. Er ist Vorstandsmitglied FokusAnti-Atom und Präsident Mühleberg Ver-fahren . Bild: zvg

AKW-Gegner Jürg Joss fordert, dass die Aare systematisch und mit analytischem Sachverstand vom Bielersee hinauf bis zum AKW vermessen wird. Die Daten sollten sodann mit Messungen oberhalb des AKW verglichen werden. ©Bild: T. Rütti

In den Bielersee fliesst die Aare beim Wasserkraftwerk Hagneck der Bielerseekraftwerke AG (BKW Energie AG). Die Anlage wird derzeit umfassend erneuert. Die geschützte Auenlandschaft ist von nationaler Bedeutung. ©Bild: T. Rütti

Cäsium im Bielersee: Eine Untersuchung wird gefordert

(TR) Geologen der Universität Genf habe eine böse Entdeckung gemacht: Cäsium im Bielersee. Sedimentanalysen zeigen, dass um das Jahr 2000 grössere Mengen dieses radioaktiven Stoffes in den See gelangten. Das AKW Mühleberg gilt als wahrscheinlichster Verursacher. Nun werden Untersuchungen gefordert. Ein Interview mit Jürg Joss, Präsident MühlebergVer-fahren.


Offensichtlich liess das AKW Mühleberg Cäsium in die Aare fliessen, ohne dass die Behörden Kenntnisse davon hatten. Dies ging im Februar 2013 aus einem Bericht der wissenschaftlichen Zeitschrift «Aquatic Sciences» hervor. Bei einer von Geologen der Universität Genf durchgeführten Studie ging es unter anderem darum, Sedimente aus dem Bielersee zu analysieren. Die Forschende sollen dabei zufällig auf die erhöhte radioaktive Strahlung im Seegrund gestossen sein. Der festgestellte Ausschlag dürfte auf Abgaben aus dem Atomkraftwerk Mühleberg zurückzuführen sein. Von diesem AKW fliesst dem Vernehmen nach kontrolliert und in geringen Mengen radioaktives Reinigungswasser in die Aare, das in den Bielersee gelangen kann. Die Verfasser der Studie bezeichnen den «Peak» der Messungen zwar als moderat, weisen aber darauf hin, dass sich im Sediment nur ein Bruchteil des in den See gelangten Cäsiums zeige. Ausserdem müsse beachtet werden, dass 70 Prozent des Trinkwassers Biels aus dem Bielersee stamme.

Das
BAG hatte offenbar Kenntnis von der Studie
Das Thema aufgegriffen haben am letzten Wochenende die «SonntagsZeitung» und «Le Matin Dimanche» sowie schliesslich allen übrigen Medien, die über die radioaktiven Abgaben aus dem AKW Mühleberg berichteten. Laut «Aargauer Zeitung AZ» hatte das Bundesamt für Gesundheit (BAG) Kenntnis von der Studie aus Genf. Als wahrscheinlichster Verursacher für die Cäsium-Spuren komme zwar das AKW Mühleberg in Frage, doch werde es im Nachhinein wohl nicht mehr möglich sei, die genaueren Umstände für diese Abgaben herauszufinden. Und: Aus gesundheitlicher Sicht seien die Werte nicht alarmierend, hielt das BAG fest. Es gehe nun aber darum, dass es in Zukunft zu keinen unbemerkten Abgaben mehr komme.

Kontinuierliche Überwachung statt monatlich messen
Auf Radio SRF zu vernehmen war am Montag der Kantonschemiker Otmar Deflorin. Er verlangte völlige Klarheit darüber, ob die im Bielersee festgestellte Cäsium-Konzentration auch tatsächlich  vom AKW Mühleberg via Aare in den See gelangt sei. Er verlangte dies ungeachtet dessen, dass sich die Spuren im untersuchten Sediment zwar auf sehr tiefem Niveau befunden hätten und es nie wirklich gefährlich gewesen sei, im Bielersee zu baden oder das Trinkwasser zu trinken. Gegenüber Radio SRF äusserte sich der Berner Kantonschemiker zudem über die Höchstwerte einer allfälligen radioaktiven Belastung in Trinkwasserseen: Der Bund müsse für grosse Trinkwasserseen Höchstwerte festlegen; Kollegen anderer Kantone leisteten dem Berner Kantonschemiker Schützenhilfe. Otmar Deflorin fordert überdies, dass die radioaktive Belastung der Aare künftig kontinuierlich überwacht wird; heute wird lediglich monatlich eine Messung vorgenommen, was völlig unzureichend sei.

Cäsium-Spuren
, aber kein ausserordentliches Ereignis
Wie die Medien meldeten, wurde beim Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI auf die geltenden Grenzwerte hingewiesen: Diese würden von allen Kernkraftwerken deutlich unterschritten. Für den Zeitraum um das Jahr 2000 seien keine Werte im Wasser gefunden worden, welche die bewilligten Limiten überschritten hätten. Beim Atomkraftwerk in Mühleberg gebe es aber «Verbesserungsbedarf».Für die Betreiberin des AKW in Mühleberg, die bernische BKW, lassen sich die Cäsium-Spuren nicht auf ein ausserordentliches Ereignis zurückführen. In den letzten Jahrzehnten sei nichts passiert, was ausserordentliche Abgaben an die Umwelt zur Folge gehabt hätte, erklärte BKW-Sprecher Antonio Sommavilla gegenüber den Medien.

Greenpeace-Forderung: Berner Staatsanwaltschaft soll ermitteln

Der Bielersee sei keine Atommüll-Deponie, konstatiert die Umweltorganisation Greenpeace Schweiz. Die Berner Staatsanwaltschaft müsse ermitteln und klären, unter welchen Umständen die BKW die Radioaktivität in die Aare einleiteten konnte. Von Greenpeace Schweiz wurde das ENSI aufgefordert, alle ihm verfügbaren Informationen auf den Tisch zu legen, welche die radioaktiven Emissionen von Mühleberg betreffen. «Der Befund zeigt einmal mehr, dass sich das AKW Mühleberg an einem kritischen Standort befindet. Ein Unfall mit einer Freisetzung von Radioaktivität würde nicht nur die Agglomeration Bern verseuchen, sondern auch das Trinkwasser von Millionen von Menschen dauerhaft unbrauchbar machen. Einzig eine Abschaltung eliminiert das Risiko», so Florian Kasser, Atom-Experte bei Greenpeace Schweiz.

Erklärung des ENSI zum Wochenbeginn
Am Montag, den 15. Juli, gab das ENSI nun auf seiner Homepage folgende Stellungnahme ab: «Radioaktive Isotope wie das Cäsium-137 können im Sediment aller Seen der Schweiz nachgewiesen werden. Die Quellen dafür sind vielfältig. Neben den Kernkraftwerken gibt es Abgaben der Industrie, Forschung und Medizin. Auch aus dem Ausland können über die Luft radioaktive Isotope in die Schweiz getragen werden. Dies wurde bereits durch verschiedene wissenschaftliche Forschungsprojekte untersucht. Der wissenschaftliche Artikel, auf den sich der Artikel in der SonntagsZeitung und im Le Matin dimanche abstützt, zeigt denn auch, dass es bereits vor und seit der Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Mühleberg im Sediment im Bielersee immer wieder Ablagerungen von Cäsium-137 gab. Spitzen gab es 1963, 1976 und 1986. Die beiden grössten spezifischen Aktivitäten im Sedimentbohrkern aus dem Bielersee stammen von Ereignissen, die nicht im Zusammenhang mit dem Kernkraftwerk Mühleberg stehen: Die Spitze im Jahr 1963 mit über 120 Becquerel pro Kilogramm wird mit dem Fallout infolge der Atombombentests in der Atmosphäre erklärt. Die mit Abstand grösste Spitze mit über 160 Becquerel pro Kilogramm stamme aus dem Jahr 1986 und stehe im Zusammenhang mit der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Der Anstieg 1976 auf 95 Becquerel pro Kilogramm kann mit Brennelementschäden im Kernkraftwerke Mühleberg in Zusammenhang gebracht werden.»

Fragen
an AKW-Gegner Jürg Joss und Vorstandsmitglied von FokusAnti-Atom und Präsident MühlebergVer-fahren


ee-news: Herr Joss, woran stossen Sie sich am meisten im Zusammenhang mit der Cäsiumbelastung im Bielersee?

Jürg Joss: Mittlerweile hat das ENSI den Ursprung der Cäsium-Belastung gefunden. Beunruhigend ist, dass diese Kommunikation erst nach öffentlicher Empörung erfolgte. Auch der «Gesundheitstipp» meldete in der Februar-Ausgabe 2010, dass sich unterhalb des AKW radioaktive Elemente in der Aare finden liessen. Und Dr. Achim Albrecht hielt schon in einer EAWAG Studie 1998 fest, dass sich bereits Kontaminationen aus den Jahren 1977 und 1982 in den Sedimenten nachweisen liessen. Jetzt muss die Aare systematisch und mit analytischem Sachverstand vom Bielersee hinauf bis zum AKW vermessen werden. Die Ergebnisse müssen mit Messungen oberhalb des AKW verglichen werden.

Es hiess, alte Messdaten seien verlorengegangen…

…das ENSI meldete, dass die Messdaten des besagten Zeitraums nicht öffentlich seien und teilweise verloren gingen – ein Skandal! Wenn sich, wie heute vom ENSI bekanntgegeben, Freisetzungen von Radioaktivität ereignet haben, müssen lückenlos Daten vorhanden sein. Die Messnetze müssen laut BAG verstärkt werden. Darauf werden wir ein Auge haben.

Es ist Badesaison: Eine Gefahr für die Badenden?

Werden kontinuierlich verdünnt radioaktive Stoffe abgegeben, können sich diese an spezifischen Stellen – etwa in stilleren Gewässern – anreichern. Die Sedimentproben im Bielersee müssen deshalb erweitert werden. Badegebiete, die sich in der Nähe des Aareeinflusses Hagneck befinden, sowie die Wasserfassungen sind sofort zu untersuchen. Badende können zum Beispiel im Sediment abgelagertes Cäsium aufwirbeln und so mit dem Wasser vermischt inkorporieren und einnehmen.

©Text: Toni Rütti, Redaktor ee-news.ch, Quellen: SonntagsZeitung, Aargauer Zeitung AZ, Radio SRF, ENSI, Jürg Joss

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