Konventionelle Anlagen neuzubauen ist keine nachhaltige Strategie. Stattdessen sollten Industrieunternehmen schon im nächsten Investitionszyklus in klimaneutrale Schlüsseltechnologien investieren.

Agora Energiewende: Wie die europäische Stahl-, Zement- und Chemieindustrie CO₂-frei wird

(PM) Durch den Einsatz klimaneutraler Technik könnten die Stahl-, Zement- und Chemieindustrie bis 2030 die nötigen Treibhausgasminderungen für alle im europäischen Emissionshandel erfassten Industriesektoren erfüllen. Bislang werden diese Schlüsseltechnologien in der europäischen Diskussion jedoch vernachlässigt. Damit gefährdet die EU ihre langfristigen Klimaziele.


Die in der EU diskutierten technischen Lösungen zur Minderung von Treibhausgasemissionen in der europäischen Stahl-, Zement- und Chemieindustrie bis 2030 verfehlen das langfristige Ziel der Klimaneutralität. So lässt die Europäische Kommission den Einsatz von klimaneutraler Technik in Stahl-, Zement- und Chemiefabriken bislang fast vollkommen ausser Acht: Laut Climate Impact Assessment der Kommission, der Folgenabschätzung über ein höheres Klimaziel bis 2030, sind Emissionsminderungen in europäischen Fabriken in der nächsten Dekade fast ausschliesslich durch Investitionen in Effizienzsteigerungen konventioneller Anlagen vorgesehen.

Neubau nicht nachhaltig
Konventionelle Anlagen neuzubauen ist jedoch aufgrund ihrer langen Lebensdauer von durchschnittlich 40 Jahren und im Hinblick auf das im European Green Deal formulierte Ziel der Klimaneutralität 2050 keine nachhaltige Strategie, zeigt eine Studie von Agora Energiewende. Stattdessen sollten Industrieunternehmen schon im nächsten Investitionszyklus in klimaneutrale Schlüsseltechnologien investieren.

Denn mit klimaneutralen Schlüsseltechnologien könnte die Stahl-, Zement- und Chemieindustrie in den nächsten zehn Jahren die notwendigen Emissionseinsparungen für die gesamte Industrie erzielen, die unter den europäischen Emissionshandel fällt – und damit zu einem höheren EU-Klimaziel 2030 von mindestens 55 Prozent weniger Emissionen beitragen. Zudem konterkarieren Investitionen in konventionelle Anlagen das Ziel der Klimaneutralität bis 2050: Spätestens dann dürfen nur noch klimaneutrale Anlagen laufen, damit die Industrieemissionen auf null sinken. Entsprechend stehen konventionelle Industrieanlagen in den 2040ern vor dem Aus. Anlagen, die in den 2020ern gebaut werden, erreichen somit nicht mehr ihr technisches Lebensende. „Unter diesen Umständen ist es fraglich, ob Industrieunternehmen überhaupt noch in den Standort Europa investieren“, sagt Frank Peter, stellvertretender Direktor von Agora Energiewende. Dabei gebe es in den kommenden zehn Jahren einen hohen Reinvestitionsbedarf, und viele klimaneutrale Schlüsseltechnologien seien schon vor 2030 einsatzbereit.

Kurzfristige Erfolge, statt nachhaltige Emissionsminderungen
„Wir laufen gerade Gefahr, dass die EU kurzfristige Emissionsminderungserfolge in der europäischen Stahl-, Zement- und Chemieindustrie über langfristige Klimaziele stellt. Dabei ist bei der nachhaltigen Umstellung auf klimaneutrale Industrieprozesse der Weitblick entscheidend“, sagt Peter. „Industrieanlagen haben eine Lebensdauer von bis zu 70 Jahren – das heisst Investitionen in rein konventionelle Anlagen sind bereits heute nicht mehr kompatibel mit dem langfristigen Ziel der Klimaneutralität. Um Investitionsruinen zu vermeiden, muss die Entscheidung fortan auf die klimaneutrale Innovation fallen.“ Nur so würde sowohl das 2030er- als auch das 2050er Klimaziel der EU erreicht werden.

Konsequent in klimaneutrale Technik investieren
Bei einem erhöhten 2030-Klimaziel von mindestens 55 Prozent müssten die Treibhausgasemissionen der energieintensiven Industrien, die unter den europäischen Emissionshandel fallen, bis 2030 um 27 Prozent gegenüber 2019 zurückgehen. Das entspricht rund 140 Millionen Tonnen CO₂. Laut Agora-Studie könnten die energieintensiven Unternehmen eine Minderung in Höhe von 145 Millionen Tonnen CO₂ allein dadurch erzielen, dass sie konsequent in klimaneutrale Technik investieren. Das gelte insbesondere für die anstehenden Reinvestitionen. Die Stahlindustrie könnte bis 2030 bereits ein Drittel von 188 Millionen Tonnen CO₂ im Jahr 2017 nachhaltig reduzieren: Wenn sie ab sofort von kohlebetriebenen Hochöfen, die das Ende ihrer Laufzeit erreichen, auf Direktreduktionsanlagen umrüstet. Diese Anlagen können anfänglich mit Erdgas betrieben werden und mit zunehmender Verfügbarkeit auf klimaneutralen Wasserstoff umstellen. 

In der Chemie auf elektrische Wärmeerzeugung umstellen
In Chemiewerken wird die Umstellung auf elektrische Wärmeerzeugung anstelle von erdgasbetriebenen Dampfkesseln wichtig: Bei einem beschleunigten Kohleausstieg – wie im Impact Assessment der Kommission angenommen – würde der europäische Strommix 2030 wesentlich sauberer werden und Strom entsprechend klimafreundlicher als Erdgas. Durch die Umstellung auf das sogenannte Power-to-Heat-Verfahren kann die Chemieindustrie laut Agora-Berechnung ein Fünftel ihrer CO2-Emissionen einsparen. Für die klimaneutrale Zementproduktion ist der Aufbau einer Infrastruktur zu CO₂-Abscheidung und -Lagerung – sogenanntes Carbon Capture and Storage (CCS) – zentral. Denn bei der Zementproduktion entsteht während des Klinkerbrennens unvermeidbar CO2. Der Zementindustrie eröffnet sich durch eine CCS-Infrastruktur zudem langfristig die Option zu negativen Emissionen beizutragen: Wenn sie CO₂-neutrale Biomasse als Brennstoff nutzt und dann das CO₂ anschliessend mit CCS-Technik der Atmosphäre entzieht. 

Industrieunternehmen fehlt aktuell Entscheidungsfreiheit
„Industrieunternehmen zeigen zunehmend Interesse an klimaneutraler Technik. Was ihnen fehlt, sind die Rahmenbedingungen für ein klimaneutrales Geschäftsmodell. Es ist Aufgabe der EU, einen Rahmen für die Investition in klimaneutrale Innovationen zu schaffen“, sagt Frank Peter. Mit der Aussicht auf hohe CO₂-Preise, strengere Umweltvorschriften und eine rückläufige Nachfrage nach kohlenstoffintensiven Produkten würden Unternehmen derzeit Investitionen in CO₂-intensive Anlagen scheuen. „Unter den aktuellen Bedingungen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie ihre Investitionen in Länder mit niedrigeren Umweltanforderungen verlagern. So steigen die Industrieemissionen andernorts und europäische Industriestandorte gehen verloren. Die EU sollte daher jetzt das Paket für den klimaneutralen Umbau der energieintensiven Industrie schnüren.“

Studie Breakthrough Strategies for Climate-Neutral Industry in Europe“
Die Zusammenfassung „Breakthrough Strategies for Climate-Neutral Industry in Europe“ ist in Zusammenarbeit mit dem Wuppertal Institut entstanden. Die Studie ist in englischer Sprache erschienen und skizziert die wesentlichen Technologiepfade für nachhaltige Emissionsminderungen in Stahl-, Zement- und Chemiefabriken. Zudem enthält sie ein Massnahmenpaket mit Politikinstrumenten, um den klimaneutralen Umbau der europäischen Grundstoffindustrie anzustossen. Die 38-seitige Publikation steht unten zum kostenlosen Download zur Verfügung. Die Veröffentlichung der Gesamtfassung ist für Anfang 2021 vorgesehen.

Kurzfassung Studie „Breakthrough Strategies for Climate-Neutral Industry in Europe“

Text: Agora

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