„Es ist Zeit, die Ursache des Erdbebenrisikos zu beseitigen“ erklärte Ende März der niederländische Minister für Wirtschaft und Klima, Eric Wiebes. ©Bild: Minister of Economic Affairs and Climate Policy

Heute noch kaum erneuerbar drin, die Stromproduktion in den Niederlanden 2017 und die Ziele bis 2030. ©Grafik: NVDE

„Der Anteil erneuerbarer Energien wächst zu langsam“, stellt auch Olof van der Gaag, Direktor der Niederländischen Vereinigung für Erneuerbare Energie (NVDE) fest. ©Bild: NVDE

Niederlande: Abschied vom Erdgas – weil die Erde bebt, ist Förderung im dicht besiedelten Land „sozial nicht mehr akzeptabel“

(©BJ) Für die niederländische Regierung sind die durch die Erdgasförderung aufgetretenen Erdbeben in der Hauptförderregion Groningen eine „unhaltbare Situation“. Die Erneuerbaren, die das Erdgas zumindest teilweise ersetzen sollen, kommen aber nur langsam voran. Auch pikant: Aus den Groninger Quellen stammt aktuell noch fast ein Fünftel der europäischen Fördermenge.


Am Anfang standen physische Erdbeben – dann folgte ein energiepolitisches. Wiederholt hatte es in der Region um das niederländische Groningen Erdstösse gegeben, ausgelöst durch die Förderung von Erdgas, das in 3000 Meter Tiefe lagert. Als am 8. Januar die Erde abermals bebte, diesmal mit Stärke 3,4, wurde die Regierung des Landes deutlich, sprach von einer „unhaltbaren Situation“. Weil die Erschütterungen Gebäude beschädigten und die Bewohner verunsicherten, seien die Konsequenzen der Erdgasförderung in dem dicht besiedelten Land „sozial nicht mehr akzeptabel“.

Bis Ende des kommenden Jahrzehnts
Und so wollen die Niederlande sich nun vom Erdgas verabschieden: Bis Ende des kommenden Jahrzehnts soll die Förderung in Europas grösstem Gasfeld in der Provinz Groningen komplett beendet werden. „Es ist Zeit, die Ursache des Erdbebenrisikos zu beseitigen“ erklärte Ende März der niederländische Minister für Wirtschaft und Klima, Eric Wiebes. Parallel sollen im ganzen Land schon ab diesem Sommer keine neuen Gasheizungen mehr installiert werden.

Zu Gunsten der Anwohner
Unterstützung erfährt der Vorstoss der Regierung durch den niederländischen Staatsrat (Raad van State), der als Verfassungsorgan jeden Gesetzentwurf prüft, eher dieser dem Parlament vorgelegt wird. Das Gremium legt dar, dass der Minister in diesem Fall „drei Interessen unterschiedlicher Art und unterschiedlicher Gewichtung abwägen“ müsse. Dies seien zum einen die Sicherheitsrisiken für die Anwohner infolge der Bodenbewegungen, ferner das Risiko, dass Verbraucher künftig nicht mehr ausreichende Mengen des niedrigkalorischen Gases erhalten (siehe Kasten), und schliesslich auch die wirtschaftlichen Folgen für die Gasunternehmen. In diesem Interessenkonflikt urteilt der Staatsrat eindeutig zugunsten der Anwohner: Deren Sicherheit habe Vorrang vor der allgemeineren sozialen Bedeutung der Versorgungssicherheit. Anfang Juni wurde der Gesetzentwurf dem Parlament zugeleitet.

Ein Fünftel der europäischen Fördermenge
Die Pläne sind nicht nur für die Niederlande von grosser Bedeutung. Sie sind für ganz Europa relevant, weil aus den Groninger Quellen aktuell noch fast ein Fünftel der europäischen Fördermenge stammt. Allerdings wird die Ausbeute in den nächsten Jahren ohnehin massiv zurückgehen, weil die Quellen bald erschöpft sind. Das dürfte die politische Entscheidung für ein beschleunigtes Ende erheblich erleichtert haben.

95% ans Gasnetz angeschlossen
Wie der Abschied der Niederlande vom Erdgas in der Praxis umgesetzt werden kann, wird nun im Land intensiv diskutiert. Denn die Veränderungen werden erheblich sein: Aktuell sind 95 Prozent der Haushalte an das Gasnetz angeschlossen. Als eine Alternative zum Erdgas benennt die Regierung Nahwärmenetze, die unter anderem Abwärme aus der Industrie in die Häuser bringen sollen, sowie „grüne Gase“, die aus erneuerbaren Energien stammen. Auch elektrisch betriebene Wärmepumpen sollen vermehrt zum Einsatz kommen und die Bürger sollen verstärkt zur Nutzung eines Elektroherds anstelle des Gasherds bewegt werden.

Doch damit stellen sich heikle Fragen. Der Schwenk zum Elektroherd ist aus Sicht der Energieeffizienz und des Klimaschutzes fragwürdig, weil dieser aufgrund der Emissionen, die heute noch bei der Stromerzeugung entstehen, in allen Ökobilanzen nach wie vor als die schlechtere Option gilt.

Wärmepumpe und PV, die „saisonale Illusion“
Auch bei der Wärmepumpe stellt sich die nicht unbedeutende Frage nach der Herkunft des zusätzlich benötigten Stroms. Solarpaneele auf dem Dach gelten zwar als eine Option, doch die Verknüpfung von Sonne und Wärmepumpe birgt ein grundsätzliches Problem: Die Photovoltaik erzeugt den Grossteil ihres Stroms im Sommerhalbjahr, der Verbrauch der Wärmepumpe fällt überwiegend ins Winterhalbjahr. Das Modell funktioniert also nur unter der Annahme, dass das Stromnetz diesen Zeitversatz von Erzeugung und Verbrauch irgendwie ausgleicht – weshalb Kritiker der Photovoltaik-Wärmepumpen-Kombination von der „saisonalen Illusion“ sprechen.

Es wird also noch einiges zu diskutieren sein in den Niederlanden, und schnelle Antworten hat im Moment niemand. So sieht sich auch das CE Delft, eine unabhängige Forschungs- und Beratungsorganisation im Umweltsektor, spontan nicht in der Lage, die Konsequenzen des Erdgasbanns für die künftige Energieversorgung abzuschätzen und zu bewerten.

Weder links noch rechts, weder liberal noch konfessionell
Hinzu kommt: Die Entscheidung fällt in eine Zeit, in der das Land ohnehin gerade seine Energiepolitik neu justiert und den Klimaschutz in bisher nicht gekannter Weise zum Thema macht. „Die Niederlande werden nachhaltig“ hatte die aus vier Parteien bestehende Regierung im vergangenen Herbst in ihren Koalitionsvertrag geschrieben. Im November bekräftigte Ministerpräsident Mark Rutte dies dann auch in seiner Regierungserklärung, indem er betonte, dass eine „ehrgeizige Klimapolitik notwendig“ sei, und zwar unabhängig von allen Ideologien: „Das ist weder links noch rechts, weder liberal noch konfessionell – es ist schlicht eine Notwendigkeit.“

2030 soll Schluss sein mit Kohle
Entsprechend hatte das Land schon vor dem Abschied von der Erdgasförderung den Ausstieg aus der Kohleverstromung bis 2030 beschlossen. Dieser Schritt resultiert aus der Energieagenda, mit der die Regierung in Den Haag anstrebt, die CO2-Emissionen des Landes bis 2030 gemäss dem Pariser Klimavertrag im Vergleich zu 1990 um 49 Prozent zu senken. Sie will dies erreichen, indem sie in einem ersten Schritt einen CO2-Mindestpreis im Stromsektor von 18 Euro pro Tonne ab 2020 festschreibt. Im zweiten Schritt soll dieser Satz bis 2030 auf 30 Euro ansteigen.

Nach den ursprünglichen Plänen wäre die Kohle damit für eine Übergangszeit durch das klimafreundlichere Gas ersetzt worden – doch exakt dieses Konzept steht in den Niederlanden mit der Lex Groningen nun nicht mehr zur Verfügung. Angesichts der damit durcheinander gewirbelten Szenarien ist derzeit auch den Behörden noch völlig unklar, wie das Land seine Klimaziele erreichen will.

Das muss auch die Fachbehörde PBL (Planbureau voor de Leefomgeving – das Pendant zum deutschen Umweltbundesamt) einräumen. „Angesichts der laufenden Verhandlungen über ein nationales Klima- und Energieabkommen kennen wir die Details unserer nationalen Politik für das nächste Jahrzehnt noch nicht“, sagt Wissenschaftler Jos Notenboom. Erst im Herbst, so hofft er, werde man mehr wissen.

Nur gerade 17% erneuerbarer Strom
Allein eines ist klar: Aus Sicht des Klimaschutzes gibt es viel zu tun im Königreich Niederlande. Denn bislang kommen die erneuerbaren Energien im Stromsektor nur auf einen bescheidenen Anteil. Mit zuletzt rund 17 Terawattstunden Jahreserzeugung decken Windkraft, Sonne und Co. nur gut 14 Prozent des nationalen Verbrauchs, wobei der Wind mit rund 9 Prozent an der Spitze steht (davon knapp ein Drittel Offshore). Die Sonne deckt knapp 2 Prozent des Verbrauchs, die Biomasse gut 3 Prozent. Die Wasserkraft verbleibt im Promillebereich.

Nur gerade 6.6% des Primärenergieverbrauchs
Abseits des Strommarktes sieht es noch düsterer aus. Mit einem Anteil von 6.6 Prozent am Primärenergieverbrauch spielten die erneuerbaren Energien im Jahr 2017 auch im europäischen Vergleich nur eine untergeordnete Rolle. Allerdings hat sich das Land in seinem Energieabkommen, das im September 2013 zwischen der Energiewirtschaft, Nichtregierungsorganisationen, dem Kabinett und anderen öffentlichen Organen geschlossen wurde, verpflichtet, im Jahr 2020 bei rund 14 Prozent, und 2023 bei rund 16 Prozent angelangt zu sein. Inzwischen ist das aber kaum mehr zu schaffen. „Der Anteil erneuerbarer Energien wächst zu langsam“, stellt auch Olof van der Gaag, Direktor der Niederländischen Vereinigung für Erneuerbare Energie (NVDE) fest.

Handelskammer will Abhängigkeit stark verringern
Immerhin beginnt nun auch die Wirtschaft, die Chancen einer Energiewende zu erkennen. „In Zukunft sollen erneuerbare Energien deutlich stärker zur niederländischen Energieproduktion beitragen“, schreibt die Deutsch-Niederländische Handelskammer in ihrer Zielmarktanalyse 2018 und betont, dass die Niederlande nicht nur die Abhängigkeit der Haushalte vom Gas „sehr stark verringern“ müssten. Das Land müsse zudem seine „Energieinfrastruktur innerhalb eines verhältnismässig kurzen Zeitraums vollständig auf erneuerbare Energien umstellen“. Dabei liege „der Fokus vor allem auf dem Anlegen neuer Wärmenetze, dem Verbinden schon bestehender Wärmenetze mit nachhaltigen Wärmequellen wie zum Beispiel der Geothermie oder dem Umstieg auf nachhaltiges Gas oder sogenannte All-Electric-Lösungen.“

Heute schon Stromimporteur
Ob nun der massive Einsatz strombasierter Heiztechniken wirklich eine Lösung ist, kann man unterdessen durchaus bezweifeln – denn irgendwo muss der Strom herkommen. Ein erheblicher Ausbau der erneuerbaren Erzeugung müsste erst einmal die wegfallende fossile Stromerzeugung ersetzen, denn rund 32 Prozent des im Lande produzierten Stroms stammt bislang noch aus den fünf Steinkohlekraftwerken, rund die Hälfte aus Erdgas. Somit dürfte es unrealistisch sein, auf die Schnelle auch noch zusätzlich neue Stromverbraucher zu bedienen. Zumal die Niederlande schon heute Stromimporteur sind; um rund 5 Terawattstunden übertrifft der jährliche Import den Export, seit Jahren fliessen grosse Mengen Strom aus Deutschland in die Niederlande.

Uralt-AKW Borssele
Das einzige Atomkraftwerk im Land, der Reaktor Borssele, spielt für den Strommix nur eine marginale Rolle: Mit einer Jahreserzeugung von zuletzt 3.3 Terawattstunden deckt er keine drei Prozent des landesweiten Verbrauchs. Der Uraltreaktor von 1973 soll noch bis zum Jahr 2034 weiterbetrieben werden, wäre dann also gut 60 Jahre alt. Ursprünglich sollte er 2004 stillgelegt werden, doch dann begründete man die Verlängerung der Laufzeiten auch mit den Verpflichtungen der Niederlande zur CO2-Minderung.

Steigende CO2-Emissionen
Dass diese Rechnung nicht aufgeht, ist jedoch längst klar. Nach jüngsten Zahlen der Statistikbehörde CBS steigen die CO2-Emissionen des Landes sogar weiter an: Von 14.2 Tonnen CO2-Äquivalente pro Kopf im Jahr 2016 stieg der Wert 2017 auf 15.4 Tonnen. Davon entfielen 13.6 Tonnen auf den Inlandsverbrauch, 1.8 Tonnen auf importierte Güter.

Der negative Trend hält auch 2018 bislang an, im ersten Quartal stiegen die Emissionen weiter. Schuld daran sind der Verkehr und die Industrie, während die Stromwirtschaft ihren Ausstoss immerhin etwas senken konnte. Ein Konzept zur wirksamen Emissionsminderung gibt es für Verkehr und Industrie der Niederlande aber bislang noch viel weniger als im Strom- und Heizwärmemarkt.

Ein Land in einer schwierigen Situation. Möglich, dass nun der Abschied vom Erdgas bisher ungekannte politische Kräfte entfesselt, um die Energiewirtschaft auf neue Beine zu stellen. Nötig wäre es. Ob die politische Konstellation dabei hilft? Immerhin vereint sich in der Vier-Parteien-Regierung ein breites gesellschaftliches Spektrum, von linksliberal bis bürgerlich und christlich-demokratisch.

©Text: Bernward Janzing


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