Die Jülicher Forscher untersuchen, welche Risikofaktoren zu Ungleichgewichten im Stromnetz führen und wie diese zusammenwirken. Dazu benutzen sie transparente KI-Methoden. ©Bild: Forschungszentrum Jülich, Johannes Kruse

Die Black-Box öffnen: Wie findet Künstliche Intelligenz Schwachstellen im Stromnetz?

(PM) In unserem Stromsystem verursachen alltägliche Schwankungen hohe Kosten für die Verbraucher und Risiken für die Betreiber. Doch was verursacht diese alltäglichen Schwankungen? Drei Jülicher, Kölner und Norweger Wissenschaftler sind dieser Frage mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) auf den Grund gegangen – und fanden dabei grosse Unterschiede zwischen den Stromnetzen. Die Ergebnisse dieser Arbeit sind nun in der Fachzeitschrift "Patterns" des Cell Press Verlages erschienen.


Wer im Frühjahr 2018 morgens den Zug erwischen musste, konnte eine böse Überraschung erleben: Viele digitale Uhren zeigten die Zeit über Wochen hinweg mit einer Verspätung von bis zu sechs Minuten an. Grund dafür war eine extreme Abweichung der Netzfrequenz im Europäischen Stromnetz. “Viele digitale Uhren nutzen die Netzfrequenz als Taktgeber. Weicht die Netzfrequenz zu sehr von ihrem Richtwert ab, so kann das zu Verspätungen führen”, erklärt Johannes Kruse vom Forschungszentrum Jülich, Erstautor der Studie.

Extreme Abweichungen sind selten
Im Stromnetz drehen sich die Generatoren mit zirka 50 Umdrehungen pro Sekunde, also mit einer Netzfrequenz von ungefähr 50 Hertz. Ein ausgefeiltes System von Messungen und Regelkraftwerken sorgt dafür, dass dieser Richtwert eingehalten wird. Langfristige Abweichungen wie im Frühjahr 2018 bringen Uhren durcheinander und belasten das Regelsystem. Kurzfristige extreme Abweichungen, etwa durch den Ausfall von Kraftwerken, können zu weitreichenden Stromausfällen führen.

Doch solche extremen Abweichungen der Netzfrequenz sind selten. Kleinere Abweichungen hingegen lassen sich alltäglich beobachten und sie sind ebenfalls risikoreich. Denn sie verbrauchen die Reserven im Regelsystem, die eigentlich für die seltenen Fälle benötigt werden, wenn beispielsweise unerwartet Kraftwerke ausfallen. Ausserdem verursacht der Verbrauch von Reserven durchgehend Kosten für Betreiber und damit auch für Stromkunden. “Deshalb müssen wir nicht nur die extremen, sondern die alltäglichen Abweichungen verstehen”, führt Johannes Kruse weiter aus. “Was sind die Risiken und Treiber, die zu hohen alltäglichen Abweichungen der Netzfrequenz führen?”

Die Black-Box der Künstlichen Intelligenz
Um dieser Frage nachzugehen, haben die Wissenschaftler aus Jülich, Köln und Norwegen Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI) eingesetzt. “In den letzten Jahren ist die Menge an öffentlich zugänglichen Daten über das Stromsystem enorm gewachsen. Um diesen Datenschatz zu heben, bietet sich KI regelrecht an”, kommentiert Dirk Witthaut vom Jülicher Institut für Energie- und Klimaforschung und dem Institut für Theoretische Physik der Universität Köln.

Doch die Analyse der Netzfrequenz mithilfe von KI birgt einen Nachteil. Moderne Methoden der Künstlichen Intelligenz sind meistens ‚Black-Boxen‘: Wie die KI zu Entscheidungen und Vorhersagen kommt bleibt im Verborgenen. Daher können die Wissenschaftler die Netzfrequenz zwar vorhersagen und modellieren, aber daraus keine neuen Erkenntnisse ziehen. „Um die Black-Box zu öffnen werden überall auf der Welt Methoden entwickelt, um KI-Modelle transparenter zu machen. Mit diesen Methoden konnten wir drohende Frequenzabweichungen nicht nur vorhersagen, sondern die grundsätzlichen Risikofaktoren identifizieren, weil wir verstehen, was die KI bei ihren Diagnosen als relevant erachtet“, ergänzt Dirk Witthaut.

Grosse Unterschiede zwischen den Stromnetzen
„Wir konnten zum Beispiel zeigen, dass falsche Vorhersagen der Stromnachfrage und -erzeugung ein grosses Risiko darstellen, vor allem in Skandinavien ”, beschreibt Benjamin Schäfer von der Norwegischen Universität für Umwelt- und Biowissenschaften. „In Zentraleuropa sind hingegen die Fahrpläne der konventionellen Kraftwerke extrem relevant, also wie sie ihre Leistung hoch- oder herunterfahren, während im britischen Netz vor allem die Windstromerzeugung und hohe Strompreise mit erhöhtem Risiko einhergehen. Solche Ergebnisse können wir benutzen, um gezielt Schwachstellen im jeweiligen Stromsystem zu identifizieren und Lösungen vorzuschlagen, um Kosten zu senken und die Stabilität weiter zu verbessern."

Im Gegensatz zu etablierten Modellen, funktioniert das transparente KI-Modell der Autoren nur auf Basis von historischen Daten – ohne zusätzliche Annahmen über technische Details des Stromnetzes. Die Autoren erhoffen sich deshalb, dass ihre Studie die Anwendung solch transparenter KI-Methoden im Energiesektor weiter beschleunigt. Damit wäre das Stromsystem besser vorbereitet, wenn die Uhren wieder einmal falsch gehen oder extreme Ereignisse die Stabilität der Stromversorgung bedrohen.

Balance von Erzeugung und Verbrauch in einem Stromnetz
Die Netzfrequenz zeigt die Balance von Erzeugung und Verbrauch in einem Stromnetz an (siehe Grafik links, (a)). Kleine Störungen dieser Balance werden von ausgefeilten Kontrollmechanismen ausgeglichen, grosse Störungen bedrohen die Stabilität des Netzes. Die Jülicher Forscher untersuchen welche Risikofaktoren zu Ungleichgewichten führen und wie diese zusammenwirken. Dazu benutzen sie transparente KI-Methoden (siehe Grafik links, (b)). Diese Methoden ermöglichen es zu verstehen, wie die KI ihre Vorhersage getroffen hat und welche Einflüsse das Risiko von Ungleichgewichten erhöhen (rote Pfeile) oder abschwächen (blaue Pfeile).

Originalpublikation
Revealing drivers and risks for power grid frequency stability with explainable AI >>, Johannes Kruse, Benjamin Schäfer and Dirk Witthaut. Patterns (2021), DOI: 10.1016/j.patter.2021.100365.

Weitere Informationen: Institut für Energie- und Klimaforschung, Systemforschung und Technologische Entwicklung (Iek-Ste)

Text: Forschungszentrum Jülich, Johannes Kruse

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2 Kommentare

Max Blatter

Die Generatoren drehen sich übrigens im allgemeinen NICHT mit 50 Umdrehungen pro Sekunde respektive 3000 Umdrehungen pro Minute! Nur Gasturbinen und manche Dampfturbinen drehen so schnell; in der Regel ist es aber ein ganzzahliger Bruchteil dieser Drehzahl: Bei Dampfturbinen oft 1500 U/min; bei Wasserturbinen bis hinab zu 60 U/min.

Anders ausgedrückt: Die sogenannte Polpaarzahl der Generatoren beträgt nur selten p=1, sondern liegt bei p=2 bis etwa p=50.

Max Blatter

Ja, ja, die Abweichungen der sogenannten Netzzeit.
Aber um ehrlich zu sein: Ich verstehe ganz und gar nicht, dass Uhren noch immer die Netzfrequenz als Zeitnormal verwenden.

Schöner Auftrag für die Swissgrid-Leitstelle, die im europäischen Netzverbund (normalerweise!) die Abweichungen innerhalb plus/minus 20 Sekunden hält ... aber im Grunde halte ich das Ganze für ebenso obsolet wie mechanische Luxusuhren (die teuer aussehen, teuer sind, aber keine genaue Zeit anzeigen).

Bei mir enthalten die Wanduhr, der Wecker und die Armbanduhr allesamt funkgesteuerte Uhrwerke, die sich täglich selbst mit dem Zeitsender von Mainflingen (DE) synchronisieren. Seit die Armbanduhr auch keine Zeiger mehr hat, stimmen sie alle immer auf die Sekunde genau überein – DAS ist alltagstaugliche Zeitmessung!

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