Ein Netz von Energieerzeugern und Verbrauchern. ©Bild: Sandro Bösch / ETH Zürich

Dezentrale Energiesysteme: Technik bereit – Akzeptanz offen

(©RS/ETZ Zukunftsblog) Können wir künftig auf die klassische zentrale Energieversorgung verzichten? Aus technologischer Sicht: Ja. Dezentrale Multi-Energiesysteme sind realisierbar. Wirtschaftlich und gesellschaftlich sind aber viele Fragen ungeklärt, schreibt Roman Seidl im Zukunftsblog.


Thermale Solaranlagen wärmen das Duschwasser und den Fussboden, der Aufzug fährt mit Sonnen- und Windenergie, und was heute an Strom nicht verbraucht wird, ist für morgen in Batterien gespeichert oder für nächsten Monat in Form von Gas verfügbar. Und wenn die eigenen Energiereserven einmal nicht reichen, hilft die Batterie von Nachbars Elektroauto aus.

Das Szenario ist keine Utopie: Dezentrale Multi-Energiesysteme oder Energy-Hubs funktionieren in einzelnen Gebäuden – etwa in Ein-/Mehrfamilienhäusern oder im Forschungsgebäude NEST [1] der Empa und Eawag in Dübendorf –, oder in ganzen Stadtquartieren. Einen grossen Verbund betreibt beispielsweise die Regio Energie in Solothurn, und auch das Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (EWZ) testet verschiedene Konzepte. Mit dem energieautarken Mehrfamilienhaus in Brütten existiert seit 2016 ein solcher Energy-Hub bereits gänzlich entkoppelt von Strom- und Gasnetz, die wohl extremste Ausprägung. [2]

Dezentrale Multi-Energiesysteme werden an der ETH seit einigen Jahren erforscht. [3] Das Prinzip: Energieverbrauch und Energieerzeugung rücken räumlich näher zusammen, nutzen Synergien und werden effizienter.

H2 und Batterien speichern Sonnenenergie
Die für Energy-Hubs notwendigen Energietechnologien sind heute kommerziell verfügbar, preislich interessant und technisch effektiv. Strom aus Solarpanels oder anderen Quellen kann mit Elektrolyseuren in Wasserstoff umgewandelt und in Tanks oder im Gasnetz gespeichert werden. Brennstoffzellen machen daraus später wieder Strom und Wärme. Etwa wenn der Bedarf besonders hoch ist oder die Sonne nicht scheint. Kurzfristige Schwankungen gleichen Batterien aus. Aus technischer Sicht bleibt die Herausforderung, einen Energieverbund optimal zu regeln. Die Steuerungstechnik dazu wird auch an der ETH entwickelt. [4]

Mein Strom ist auch dein Strom
Für die Energieversorgung der Zukunft können Energy-Hubs eine wichtige Rolle spielen. Noch muss das Konzept aber gesellschaftliche und wirtschaftliche Hürden nehmen. Etwa jene der Privatsphäre: Wird ein Haus Teil eines Netzwerkes in der Nachbarschaft, geben die Konsumenten einen Teil der Kontrolle aus der Hand.
Wären Sie bereit dazu, dass die Regelungstechnik beispielsweise den Gefrierschrank kurzzeitig ausschaltet, den Ladezeitpunkt Ihres Elektroautos bestimmt oder im Winter die Temperatur zwischen 20 und 24 Grad automatisch regelt? Fragen stellen sich zudem zur Sicherheit der Anlagen, zur Verlässlichkeit der Energieversorgung und zum Schutz der verwendeten Daten über den individuellen Energieverbrauch, die zur Regelung der Anlagen notwendigerweise verfügbar sein müssen.

Wer macht den ersten Schritt?
Der dezentralen Energieversorgung fehlt zudem ein ökonomisch lohnendes Konzept. Die potenziellen Nutzer, also Hauseigentümer und Mieter, halten Energy-Hubs zwar grundsätzlich für sinnvoll. Das zeigen Umfragen im Rahmen unserer Forschung. Dass die Nutzer den ersten Schritt machen und sich aus Eigeninitiative an Hubs beteiligen, dürfte aktuell nur für eine Minderheit in Betracht kommen. Denn die Investitionen sind hoch und die Regelung von Hubs ist komplex. Die Hauseigentümer und Mieter sehen den Bund und die Energieversorger verantwortlich.

Dezentrale Energiesysteme werden oft in Verbindung gebracht mit Graswurzel-Initiativen wie Energiegemeinden oder autarken Dörfern. [5] Ein Pilot-Projekt, bei dem die breite Bevölkerung einbezogen wird, fehlt aber bislang. Einen spannenden Ansatz verfolgen Energiegenossenschaften, zum Beispiel eine «Stromallmend», der sich dezentrale Produzenten und Konsumenten anschliessen können. [6]

Transformation eines hochkomplexen Systems
Multi-Energiesysteme sind also keine Utopie – und trotzdem wird es dauern, bis sie in der Realität ankommt. Die aktuellen Knackpunkte liegen in der Finanzierung, der Vernetzung mit anderen Haushalten, der Implementierung in alte Bausubstanz, beim Datenschutz und der Steuerung. Es geht eben um mehr als eine neue Technologie. Eine dezentrale Energieversorgung bedingt die Transformation eines ganzen Energiesystems mit all seinen gesellschaftlichen und technischen Herausforderungen.


Weiterführende Informationen


©Text: Roman Seidl, Artikel erschienen auf ETH Zukunftsblog | Energie

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