Der Leidenfrost-Effekt könnte die Ursache der Unkontrollierbarkeit der Reaktoren in Fukushima sein, aber auch in den Abklingbecken. Bild: Wikipedia

Fukushima: Leid, das uns frösteln lässt

(AN) Diesen Artikel haben wir Ende März veröffentlich. Aus aktuellem Anlass stellen wir ihn noch einmal auf die Eintrittseite der ee-news.ch. Die Welt wartet auf die erfolgreiche Kühlung der Reaktoren von Fukushima. Der Super Gau könnte trotzdem eintreten. Forscher am Ökozentrum Langenbruck weisen auf den Leidenfrost-Effekt hin, der in Siedewasserreaktoren auftritt, sobald der Druck absinkt. Er könnte auch die Ursache der Probleme in den Abklingbecken sein.

Am vergangenen Freitag, dem 18.3.11, titelte der Tagesanzeiger:
"Wenn die Erde bebt, gib
t es auch in Mühleberg Probleme - Laut einem Bericht des ENSI wäre das Brennelement-Becken nicht mehr gekühlt: Auf Anfrage sagt der stellvertretende Direktor des Eidgenössischen Nuklear-Sicherheits-Inspektorats ENSI, Georg Schwarz, dazu: ‚In der Vergangenheit betrachtete man dies nicht als kritisch.‘ Man sei davon ausgegangen, dass es relativ einfach sei, das Becken nötigenfalls wieder mit Wasser zu füllen. Warum dies in Reaktor 4 ... derart grosse Probleme verursache, könne er noch nicht beurteilen. ‚Das hat uns alle überrascht‘, sagt er, ‚es ist eine der Fragen die wir nun prüfen werden.

Schon vor über 30 Jahren bekannt
Als sich Christian Gaegauf, heute Forscher am Ökozentrum Langenbruck vor 35 Jahren beim Eidgenössischen Institut für Reaktorforschung (EIR) eine Stelle im Bereich der Solarforschung suchte, wurde ihm eine in der Gruppe angeboten, die sich um die Gefahren des Leidenfrost-Effekts in Siedewasserreaktoren befasste, worauf er abwinkte und 1981 seine Arbeit im Ökozentrum aufnahm, wo er noch heute tätig ist. Die Ereignisse in Fukushima zeigen jedoch, dass die Branche die Gefahren des Leidenfrost-Effekts immer noch nicht im Griff hat.

Tanzende Tropfen
Das Phänomen der „tanzenden Tropfen“ hat Johann Gottlob Leidenfrost bereits 1756 beschreiben, der die verzögerte Stoffumsetzung, also die zeitlich gedehnte Änderung des Aggregatzustands von Wasser beinhaltet. Jeder von uns hat diesen Effekt sicher schon bei einer heissen Herdplatte beobachtet: Lässt man einen heissen Tropfen darauf fallen, und ist die Herdplatte heiss genug, um eine rasche primäre Verdampfung zu erreichen, so schwebt der Wassertropfen auf einem Dampfpolster, das ihn von der direkten Wärmeübertragung isoliert. Der Dampf ist dabei unter dem Wassertropfen gefangen und entweicht nur langsam. Gleichzeitig entsteht neuer Wasserdampf und der Tropfen gleitet so über dem heissen Material ähnlich einem Luftkissen. „Der Effekt ist auch jedem Kunstschmied bekannt“, erklärt Martin Schmid, ebenfalls Forscher am Ökozentrum Langenbruck: „Er muss das heisse Eisen zum Abschrecken mehrmals ins Wasser halten und wieder herausnehme, denn um das heisse Eisen bildet sich ebenfalls dieser hauchdünne Dampfmantel, der den Kühleffekt um ein Vielfaches vermindert.“

Unermessliches Leid aufgrund von Experten-Ignoranz
Dieser Effekt könnte die Ursache der Unkontrollierbarkeit der Reaktoren in Fukushima sein, aber auch in den Abklingbecken. Christian Gaegauf: „Um den Leidenfrost-Effekt im Reaktor zu verhindern, wird das Kühlwasser im Reaktor unter hohem Druck gehalten. Sobald der Druck im Siedewasserreaktor aber absinkt, im Falle einer Havarie ausserhalb des Sicherheitsgebäudes, bildet sich in Sekundenschnelle ein Dampfmantel um die Brennelemente. Dies könnte auch in Fukushima der Grund der Probleme sein.“ Eine effektive Notkühlung sei dann nur möglich, wenn der Druck wieder erhöht werden könne. „Doch wie soll in einem bereits defekten Reaktor der Druck über den normalen Betriebs-Druck von etwa 80bar erhöht werden?“ fragt sich Martin Schmid. Die Physik weiss, dass bei wenig Temperaturerhöhung wesentlich höhere Drücke nötig sind, um die Dampfschicht wieder zu Wasser werden zu lassen: Sind es bei 300°C rund 86 bar, müssen es bei 342°C bereits 150 bar sein, bei 370°C schon unvorstellbare 210 bar!

Auch in den Abklingbecken?
Amerikanische Atomexperten mutmassten letzte Woche, dass das Abklingbecken des Reaktor 4 ein Leck haben könnte. Gemäss den Forschern am Ökozentrum Langenbruck wird ein Kühlen der freiliegenden Brennstäbe problematisch: „Liegen die Brennstäbe frei, bewirkt meines Erachtens auch hier der Leidenfrost-Effekt, sodass sich die teilweise wieder auf über 190°C erhitzten Brennstäbe im Abklingbecken ungenügend kühlen lassen, da sich beim Nachfüllen von Wasser an der Brennstaboberfläche Dampf bildet“, führt Martin Schmid aus. Das Ensi antwortete auf unsere Anfrage betreffend des Leidenfrost-Effekts in Abklingbecken: "Der Leidenfrost-Effekt spielt für Abklingbecken praktisch keine Rolle, weil in diesen keine erzwungene (und damit starke) Strömung herrscht."

Die Katastrophe in Fukushima zeigt, dass weltweit Reaktoren in Betrieb sind, für die wir im Krisenfall überhaupt nicht gewappnet sind. Davon sind mindestens 2 in der Schweiz, der älteste (Mühleberg) und der neuste (Leibstadt). Letzterer von der gleichen Firma wie jene in Fukushima. Es muss aber befürchtet werden, dass gewisse Entscheidungsträger von diesen Unsicherheiten wussten.

Wissen ohne Gewissen wird zur grössten Gefahr für die Menschen. – Victor Frederic Weisskopf

Text: Anita Niederhäusern, leitende Reaktorin ee-news.ch, Quellen: Wikipedia, Oekozentrum

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