Eine der wichtigsten Erkenntnisse des Forschungsprojektes ist, dass das Umgehen weit über die Nichteinhaltung hinausgeht und zugleich deutlich schwerer aufzuspüren ist.

Forschungsprojekt Anticss: Deckt Möglichkeiten zum Umgehen der Grenzwerte und Messnormen beim Ökodesign auf

(PM) Die Wirkung der europäischen Gesetzgebungen zum Ökodesign und Energielabel ist gefährdet, wenn Hersteller gesetzliche Anforderungen nicht einhalten oder vorgegebene Testverfahren bewusst umgehen. Kathrin Graulich vom Öko-Institut leitet das europäische Forschungsprojekt Anticss. Dort untersucht sie, mit welchen Tricks Hersteller von Elektrogeräten Grenzwerte und Messnormen im Bereich Ökodesign und Energielabel umgehen können.


Ziel des Projektes ist es, das Vertrauen in die beiden politischen Instrumente und deren Wirksamkeit zu stärken. Die Gesetzgebung zum Ökodesign setzt verbindliche Mindestanforderungen an die Energieeffizienz für viele Produkte auf dem europäischen Markt. Die Kennzeichnung des Energieverbrauchs auf dem Energielabel erleichtert Verbraucherinnen und Verbrauchern die Auswahl energieeffizienter Produkte. Die Ökodesign-Richtlinie umfasst mehr als 25 Produktgruppen, darunter Haushaltsgeräte, Beleuchtung, Heiz- und Klimageräte, Informations- und Kommunikationstechnologien sowie zunehmend Geräte aus dem industriellen Einsatz. Die Europäische Kommission schätzt, dass die beiden politischen Instrumente zusammen etwa die Hälfte zum Erreichen des Energieeffizienzziels für das Jahr 2020 beitragen. Auch Verbraucherinnen und Verbraucher profitieren durch die Regulierungen: Durch effizientere Geräte können die Kosten für den Stromverbrauch in den Haushalten spürbar sinken.

Die Wirkung ist gefährdet
Die prognostizierte Wirkung kann jedoch nur eintreten, wenn Hersteller und Handel die gesetzlichen Anforderungen auch einhalten. Die Europäische Kommission schätzt, dass ungefähr 10 Prozent des Energieeinsparpotenzials verloren gehen, weil bis zu einem Viertel der Produkte auf dem Markt nicht komplett konform mit den Regulierungen des Energielabels sind. Gemäss einem aktuellen Bericht des Europäischen Rechnungshofs entsprechen diese Verluste in etwa dem Gesamtstromverbrauch von Schweden und Ungarn zusammen. Gründe für die Nichteinhaltung sind zum Beispiel:

– eine fehlende oder fehlerhafte Kennzeichnung mit dem Energielabel,

– das Nichteinhalten von Informationsanforderungen bis hin zu

– falscher Einstufung der Energieklasse.

Manipulierte Testergebnisse bei Ökodesign-Produkten möglich
Während die Gründe für Non-Konformität, das heisst das „Nichteinhalten von Anforderungen“, sowie mögliche Abhilfemassnahmen bereits gut analysiert wurden, erhält das Thema „verdächtige oder manipulierte Testergebnisse“, das heisst das „Umgehen von Messstandards und Grenzwerten“, im Zusammenhang mit Ökodesign und Energielabel erst seit kurzem die Aufmerksamkeit der Politik. Ausgelöst durch den Dieselskandal, in dem Fahrzeuge eine bestimmte Vorrichtung enthielten, die die Einhaltung von Emissionsgrenzwerten speziell nur auf dem Prüfstand gewährleisteten, soll untersucht werden, ob derartige Manipulationen auch im Rahmen von anderen EU-Gesetzgebungen möglich sind.

Anticss untersucht das Umgehen
Vor diesem Hintergrund finanziert die Europäische Union im Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon 2020 das dreijährige Projekt „Anticsss – Anti-Umgehung von Standards für eine bessere Marktüberwachung“. Dessen oberstes Ziel ist es, die Umgehung der Gesetzgebung und Normen des Ökodesigns und der Energiekennzeichnung zu analysieren und zu bewerten, um die Auswirkungen von Umgehung in Zukunft zu minimieren. Die Forschung erfolgt unter Leitung des Öko-Instituts in Zusammenarbeit mit 18 weiteren Partnerorganisationen aus Forschung, von Energieagenturen, Testlaboren, der Marktüberwachung und Standardisierung.

Umgehen von Messnormen ist schwieriger aufzudecken
Eine der wichtigsten Erkenntnisse des Forschungsprojektes ist, dass das Umgehen weit über die Nichteinhaltung hinausgeht und zugleich deutlich schwerer aufzuspüren ist: Denn das Nichteinhalten von Anforderungen können Marktüberwachungsbehörden vergleichsweise einfach durch Inspektion der Produktunterlagen und/oder durch Labortests feststellen. Die Informationen und Ergebnisse werden mit den Anforderungen abglichen, die in der Gesetzgebung und den Normen festgelegt sind. Stimmen diese nicht überein, können die Marktüberwachungsbehörden das Produkt als nicht-konform mit den Ökodesign- und Energiekennzeichnungsvorschriften geltend machen.

Im Gegensatz dazu erscheint bei einer Umgehung das Produkt während der Prüfung nicht direkt als nicht-konform. Im ersten Augenblick scheinen die Produkte beim genormten Labortest alle Anforderungen und Bedingungen zu erfüllen. Die Testergebnisse sind jedoch so beeinflusst, dass sie für den Hersteller positiver sind: durch das Umgehen von Grenzwerten oder Messnormen oder durch das Ausnutzen von (potenziellen) Schwächen oder Lücken in den Normen und Gesetzen.

Zwei weitere Möglichkeiten der Umgehung entdeckt
Das Anticss-Projektteam hat die Möglichkeiten der „Umgehung“ umfassend untersucht. Durch Literaturrecherche und Untersuchung der bestehenden Gesetzgebungen und Messnormen zum Ökodesign und Energielabel wurden mögliche Lücken und Schlupflöcher identifiziert. In einer Befragung von 278 Expertinnen und Experten von Herstellern, Marktüberwachungsbehörden, Testlaboren sowie Verbraucher- und Umweltorganisationen wurden 39 Verdachtsfälle gesammelt.

Erste Möglichkeit
Anhand dieser Fälle zeigt sich, dass das Umgehen der Vorschriften einerseits dann auftritt, wenn das Produkt so programmiert ist, dass es die Testsituation automatisch erkennt und die Produktleistung und/oder den Ressourcenverbrauch während des Tests entsprechend optimiert. Diese Definition der Umgehung ist bereits in einigen Regulierungen zum Ökodesign und dem Energielabel enthalten und verboten.

Zweite Möglichkeit (neu)
Darüber hinaus kann ein besseres Testergebnis auch dadurch erzielt werden, dass am Produkt – ausschliesslich für die Durchführung des Tests – bestimmte Voreinstellungen oder manuelle Änderungen vorgenommen werden. Derartige Instruktionen der Hersteller sind für die Durchführung der Normverfahren teilweise erforderlich und daher in einigen Messvorschriften auch offiziell zugelassen. Werden die Instruktionen jedoch in einer Form ausgenutzt, dass dadurch das Testergebnis deutlich optimiert wird, während diese Werte gleichzeitig im Alltag nicht erreichbar sind, dann zählt das nach Ansicht des Projektteams ebenfalls als Umgehung.

Dritte Möglichkeit (neu)
Eine dritte Möglichkeit zum Umgehen der Grenzwerte gibt es, wenn Produkte so programmiert werden, dass sie nur für den Zeitraum, in dem üblicherweise die Konformitätsprüfung stattfindet, oder für eine bestimmte Anzahl an Testzyklen sehr gute Werte für die Energieeffizienz oder den Ressourcenverbrauch erzielen. Die Produkte sind bereits bei der Auslieferung so programmiert, dass sie die Leistung kurze Zeit nach Inbetriebnahme des Produkts automatisch ändern. Ziel kann sein, dass das Programm für Nutzerinnen und Nutzer attraktiver wird, zum Beispiel durch kürzere Programmlaufzeiten, was jedoch zu Lasten des offiziell ausgezeichneten Energie- oder Ressourcenverbrauchs geht.

Alternative Testverfahren sollen die Tricks aufdecken
Da Produkte, die so manipuliert sind, bei der Überprüfung mit den genormten Testverfahren die gesetzlichen Anforderungen und Grenzwerte zu erfüllen scheinen, sind für das Aufdecken dieser Praktiken alternative Testverfahren erforderlich. Diese werden aktuell für 18 unterschiedliche Verdachtsfälle im Anticss-Projekt entwickelt und von den Testlaboren im Projekt auf ihre Wirksamkeit hin erprobt.

Die alternativen Verfahren bleiben dabei so nahe wie möglich an den Standardverfahren, um eine Vergleichbarkeit mit den ursprünglichen Messergebnissen zu gewährleisten und den Zusatzaufwand für Testlabore überschaubar zu halten. Gleichzeitig werden einzelne Messbedingungen leicht variiert. Führt dies dazu, dass sich die Messergebnisse unerklärlich stark ändern, so kann dies ein Hinweis darauf sein, dass das Gerät möglicherweise speziell für das Standardverfahren optimiert wurde.

Vertrauen stärken
Die möglichen Auswirkungen – sollte Umgehung tatsächlich in grösserem Umfang stattfinden – wären in mehrfacher Hinsicht fatal: Neben den verloren gegangenen Einspar- und Klimaschutzpotenzialen würde das Vertrauen von Gesellschaft und Wirtschaft in diese zentralen politischen Instrumente der EU massiv beschädigt.

Die Forschungsergebnisse von Anticss leisten daher einen wichtigen Beitrag, die bislang ungeklärten Möglichkeiten von Herstellern zum Umgehen der Grenzwerte und Messnormen im Zusammenhang mit der europäischen Gesetzgebung zum Ökodesign und Energielabel zu beleuchten. Die mit dem Projekt erzielte

– Aufmerksamkeit auf das Thema,

– die Sensibilisierung von Marktüberwachungsbehörden und Testorganisationen,

– verbesserte Möglichkeiten zum Aufdecken von Umgehungsversuchen,

– sowie das Schliessen von Schwachstellen und Schlupflöchern in den Gesetzen und Messverfahren

sollen dazu beitragen, dass wir keinen weiteren Dieselskandal, diesmal im Bereich der Produktpolitik, erhalten.

Hintergrund
Kathrin Graulich ist stellvertretende Leiterin des Forschungsbereichs Produkte & Stoffströme und seit 20 Jahren am Öko-Institut beschäftigt. Ihr thematischer Fokus liegt auf den europäischen Gesetzgebungen zu Ökodesign und Energielabel. Sie leitet das Horizon 2020 Forschungsprojekt „Anticss – Anti-Circumvention of Standards for Better Market Surveillance“ in Zusammenarbeit mit 18 weiteren europäischen Organisationen aus Forschung, der Marktüberwachung und Standardisierung, Energieagenturen und Testlaboren.

Anticss-Definitionen und Beispiele für Umgehung beim Ökodesign und Energielabel >>

Alternative Testverfahren zum Aufdecken von Umgehungen beim Ökodesign und Energielabel >>

Weitere Informationen zum Forschungsprojekt Anticss >>

Text: Öko-Institut e. V.

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