Reinvestitionsbedarf bis 2030 der Primärerzeugungskapazitäten in Deutschland in den Sektoren Stahl, Chemie und Zement sowie direkt Beschäftigte der betrachteten Industriebranchen 2017. ©Bild: Wuppertal Institut

Klimaneutrale Industrie: Wie die Politik das Investitionsdilemma der energieintensiven Industrie lösen und industriellen Klimaschutz ermöglichen kann

(PM) Stahl-, Chemie und Zementhersteller müssen Investitionsentscheidungen schon heute so treffen, dass sie klimasicher sind. Alles andere würde zu Fehlinvestitionen führen. Die Technologien für eine klimaneutrale Produktion sind schon weit entwickelt, doch ihr grosstechnischer Einsatz scheitert bislang an fehlenden politischen Rahmenbedingungen.


Agora Energiewende und das Wuppertal Institut schlagen deshalb ein Sofortprogramm vor. Damit könnte die deutsche Industrie zum Vorreiter bei grünem Wasserstoff, Elektrifizierung und der Vermeidung von Prozessemissionen werden.

Es droht ein massiver Investitionsrückgang
Weil Deutschland bisher keine dezidierte Klima- und Innovationspolitik für die Grundstoffindustrie verfolgt, droht ein massiver Investitionsrückgang in diesem Wirtschaftszweig mit seinen 550‘000 Beschäftigten. Denn Investitionen in die alten, CO2-intensiven Technologien sind angesichts des Ziels der Klimaneutralität 2050 nicht erfolgversprechend. Auf der anderen Seite fehlt auch für die neuen, CO2-neutralen Technologien der Business Case. Agora Energiewende und das Wuppertal Institut schlagen deshalb für die Stahl-, Chemie- und Zementindustrie ein Sofortprogramm vor. Zusammen mit weiteren Politikinstrumenten soll es die notwendige Investitionssicherheit in der Grundstoffindustrie herstellen, sodass diese bis 2050 weitgehend klimaneutral werden und an Innovationskraft gewinnen kann. Die Studie ‚Klimaneutrale Industrie‘ wurde jetzt veröffentlicht und wird in Berlin von Vertreterinnen und Vertretern aus Industrie, Regierung und Wissenschaft diskutiert werden.

Reinvestitionsbedarf in Grundstoffindustrie ist gross
„Zwischen 2020 und 2030 steht in der Industrie eine grosse Reinvestitionsphase an – dies ist eine grosse Chance für den Klimaschutz“, sagt Prof. Manfred Fischedick, Vizepräsident des Wuppertal Instituts. So müssen in den kommenden zehn Jahren mehr als die Hälfte der energieintensiven Anlagen in der Stahlerzeugung und in der Chemieindustrie erneuert werden und fast ein Drittel in der Zementindustrie. „Um dafür zukunftsgerichtete Investitionen tätigen zu können, brauchen die Unternehmen jetzt neue politische Rahmenbedingungen. Andernfalls droht ein Investitionsstau oder die Gefahr von Fehlsteuerungen und Lock-in-Effekten“, warnt Fischedick. Denn mit einer Lebensdauer von mehr als 50 Jahren würden konventionelle Anlagen, die heute errichtet werden, bis weit nach 2050 grosse Mengen Treibhausgase freisetzen – was im Widerspruch zum Ziel der deutschen Bundesregierung steht, Deutschland bis 2050 klimaneutral zu machen. Wegen der Sorge, dass ihre Anlagen deshalb nicht bis zum Ende ihrer Lebensdauer produzieren dürfen, scheut die Grundstoffindustrie derzeit vor Neuinvestitionen zurück.

Ein Fünftel des CO2-Ausstosses in Deutschland
Für den Klimaschutz ist die energieintensive Grundstoffindustrie ein entscheidender Faktor: Sie stösst gut ein Fünftel der Treibhausgase in Deutschland aus und muss ihre Emissionen damit bis 2050 um rund 180 Millionen Tonnen CO2 senken, um annähernd klimaneutral zu werden. Hierfür ist eine Trendumkehr notwendig, denn in den vergangenen zehn Jahren stagnierten die Emissionen. „Wir beobachten zwar Effizienzsteigerungen. Was aber zusätzlich nötig ist, sind Sprunginnovationen bei CO2-armen Schlüsseltechnologien“, sagt Patrick Graichen, Direktor von Agora Energiewende. Allen voran nennt die Studie hier die stärkere Nutzung von Grünstrom und grünem Wasserstoff, der aus erneuerbaren Energien hergestellt wird. Beides kann sowohl in der Stahl- als auch in der Chemieindustrie Kohle, Öl und Gas ersetzen. In der Zementindustrie ist aus heutiger Sicht und sofern kein Durchbruch bei alternativen Baustoffen gelingt, die CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS) unausweichlich, da beim Brennen von Kalk in der Zementproduktion grosse Mengen an CO2 entstehen.

Für die Elektrifizierung, wasserstoffbasierte Produktionsverfahren und auch für die CO2-Abscheidung bei Zement gibt es bereits zahlreiche Pilotprojekte. „Diese Schlüsseltechnologien müssen nun zum industriellen Massstab skaliert werden, damit sie die nötigen Klimaschutzbeiträge liefern können und die Industrie globaler Vorreiter im Bereich der nachhaltigen Produktionstechnologien werden kann. International winken hierdurch grosse Marktchancen für den deutschen Anlagenbau“, sagt Graichen. „Mit den richtigen Rahmenbedingungen lohnt sich die Entwicklung und der Aufbau dieser Anlagen auch langfristig für die Industrie“, ergänzt Fischedick. „Dabei muss die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie immer im Auge behalten werden. Es nutzt niemandem, wenn wir zwar grün werden, dabei aber auf dem Weltmarkt unsere gute Wettbewerbsposition verlieren und Industrieproduktion aufgrund des hochkompetitiven globalen Wettbewerbs ins Ausland abwandert.“

Sieben Massnahmen im Sofortprogramm
Die Studie schlägt sieben Massnahmen vor, die innerhalb kurzer Zeit umgesetzt werden können:

- Staatliche Förderung klimafreundlicher Produktionsverfahren, sogenannte Carbon Contract for Difference (CfD), in den Sektoren Stahl, Chemie und Zement. Die Förderhöhe soll über Ausschreibungen ermittelt werden.

- Einführung einer Klima-Umlage auf Endprodukte wie Stahl, Aluminium, Zement und Plastik, um die CfD-Förderung zu refinanzieren

- Selbstverpflichtung des Bundes, bei grösseren Bauprojekten klimafreundliche Materialien zu verwenden und klimafreundliche Fahrzeuge zu nutzen

Quote für grünen Wasserstoff auf den Absatz von Erdgas: Sie soll zum Aufbau von Produktionsanlagen für grünen Wasserstoff beitragen.

- Einstieg in die Kreislaufwirtschaft, um langfristig Stoffkreisläufe zu schliessen und so die Verbrennung von Abfall und den Einsatz neuer Rohstoffe zu vermindern

- Europäische Koordination durch Einführung dieser Instrumente auch auf EU-Ebene

- Eintreten der deutschen Bundesregierung für einen globalen CO2-Preis auf UN-Ebene

Die Studie ‚Klimaneutrale Industrie‘ umfasst mehr als 200 Seiten und enthält zahlreiche Tabellen und Abbildungen. In jeweils eigenen Teilen stellt sie den Stand der Technik von insgesamt 13 Klimaschutztechnologien und deren CO2-Minderungspotenzial dar. In einem weiteren Teil werden die Instrumente, die der Politik für Emissionsminderungen der einzelnen Glieder industrieller Produktionsketten zur Verfügung stehen, detailliert beschrieben und bewertet. Bei der Erstellung der Studie haben sich Agora Energiewende und das Wuppertal Institut in zahlreichen Workshops und Einzelgesprächen eng mit Industrieunternehmen und Verbänden ausgetauscht, um sicherzustellen, dass die Ergebnisse der Realität standhalten. In diesen Gesprächen wurde auch klar: Die Industrie steht in den Startlöchern, die Herausforderung Klimaschutz offensiv anzugehen. Die fehlenden Rahmenbedingungen und der bisher unzureichende Gestaltungswille der Politik, innovative Instrumente umzusetzen, hindern sie jedoch voranzugehen.

Juristische und technische Details in zwei Begleitdokumenten
Die Beratungsgesellschaft Navigant, die Kanzlei Becker Büttner Held und das Institut für Klimaschutz, Energie und Mobilität haben die Arbeit fachlich unterstützt. Die Studie wird begleitet von einer separaten juristischen Bewertung der Politikinstrumente sowie einer ausführlichen Darstellung der CO2-armen Schlüsseltechnologien.

Studie: Klimaneutrale Industrie >>

Juristische Kurzbewertung der in der Studie aufgeführten Politikinstrumente >>

Ausführliche Darstellung der CO2-armen Schlüsseltechnologien für die Branchen Stahl, Chemie und Zement >>

Text: Agora Energiewende

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