Anita Niederhäusern: "Wir verschlafen ganz einfach den weltweiten Ausbau von Wind- und Solarstrom!"

Trend Totalwerte (Schweiz und Ausland). Grafik: Pronova

Schweiz: Nur 68 % unseres Stromverbrauchs stammen aus Erneuerbaren – wie viel davon wurde auch noch mit HKN reingewaschen?

(ee-news.ch) Der Strom aus Schweizer Steckdosen stammte 2017 zu rund 68 % (2016: 62 %) aus erneuerbaren Energien, vermeldet das Bundesamt für Energie. Richtig gelesen: 2017. In der Schweiz dauert alles etwas länger. In Deutschland sind dank energy-charts.de die aktuellen Produktionszahlen täglich ablesbar. Bedenklich: 15.1% unseres Stroms sind Atomstrom und 16.1 % fossiler Strom! (Texte de l'Ofen en français >>)


Der Strom aus der Steckdose setzt sich gemäss dem BFE zu 60 % aus Grosswasserkraft und zu rund 7 % aus Photovoltaik, Wind, Kleinwasserkraft und Biomasse zusammen. Dazu kommen 15 % Atomstrom und rund 1 % Strom aus Abfällen und fossilen Energieträgern. Für 16 % des gelieferten Stroms sind Herkunft und Zusammensetzung nicht überprüfbar. Dies zeigen die Daten zur Stromkennzeichnung 2017. Der Stromanteil aus neuen erneuerbaren Energien liegt folglich immer noch im einstelligen Prozentbereich. Wir verschlafen ganz einfach den weltweiten Ausbau von Wind- und Solarstrom! Natürlich, wir werden dieses Jahr voraussichtlich einen Anteil von rund 3.3 % Solarstrom aufweisen können. Aber reicht das aus, um auf unsere Stromproduktion aus Erneuerbaren wirklich stolz sein zu können? Die Windenergie erreicht weniger als ein halbes Prozent …


Produktionsmix ist nicht gleich Liefermix
In der Schweiz wird Strom zu 59.6 % aus Wasserkraft, zu 31.7 % aus AKW, zu 2.7 % aus fossilen und zu 6 % aus erneuerbaren Energien produziert (= Schweizer Produktionsmix 2017). An die Schweizer Steckdosen wird aber nicht nur Strom aus Schweizer Produktion geliefert: Es herrscht ein reger Handel mit dem Ausland, bei dem Strom exportiert und importiert wird. Deshalb stimmt der Schweizer Produktionsmix nicht mit der durchschnittlichen Zusammensetzung des gelieferten Stroms (= Schweizer Liefermix) überein.


Die Daten zum Schweizer Strom-Liefermix ab Steckdose werden jährlich erhoben und auf www.stromkennzeichnung.ch im Stromkennzeichnungs-Cockpit veröffentlicht. Die vom BFE letzte Woche publizierten Daten geben Aufschluss über die Stromlieferungen 2017. Dabei zeigt sich folgendes Bild:

  • 60.5 % des im Jahr 2017 gelieferten Stroms wurden in Grosswasserkraftwerken produziert (2016: 55.9 %). Die gelieferte Wasserkraft wurde zu 80 % (2016: 85.9 %) in der Schweiz produziert.
  • 15.1 % (2016: 16.9 %) des gelieferten Stroms wurden in AKW produziert. Dies ist tiefer als der Anteil der Atomenergie am Schweizer Produktionsmix (32 %). Der gelieferte Atomstrom stammte zu 93.6 % (2016: 91.8 %) aus der Schweiz.
  • 16.1 % (2016: 19.4 %) des gelieferten Stroms stammten aus nicht überprüfbaren Energieträgern. Dieser konstant hohe Anteil ist darauf zurückzuführen, dass stromintensive Unternehmen auf dem europäischen Markt Strom aus fossilen und nuklearen Quellen beschaffen, ohne Zukauf von entsprechenden Herkunftsnachweisen.
  • Der Anteil neuer erneuerbarer Energieträger (Sonne, Wind, Biomasse und Kleinwasserkraft) nahm weiter zu, von 5.9 % (2016) auf 7.2 % im Jahr 2017. Davon wurden rund 91 % in der Schweiz produziert und knapp drei Viertel durch die kostendeckende Einspeisevergütung (KEV) gefördert.
  • In geringen Mengen stammte der 2017 gelieferte Strom aus Abfällen (0,8% ) und fossilen Energieträgern (0.4 %).

Herkunftsnachweispflicht
Bisher war es möglich in der Stromkennzeichnung "nicht überprüfbare Energieträger" (sogenannter Graustrom) auszuweisen, wenn keine Herkunftsnachweise vorhanden waren. Seit dem 1. Januar 2018 gelten das neue Energiegesetz und die zugehörige Energieverordnung. Sie schreiben vor, dass die Angabe von nicht überprüfbaren Energieträgern ab dem Tarifjahr 2018 nicht mehr zulässig ist. Dies werde erstmals im Stromcockpit 2018, das im Frühjahr 2020 publiziert wird, ersichtlich sein. schreibt das BFE. Auch für den Verbrauch von Bahnstrom und für die Verluste durch (Pump-)Speicherung müssen neu Herkunftsnachweise entwertet werden. Die Herkunftsnachweis-Erfassungspflicht gilt neu nicht nur für Anlagen, die Strom ins Netz einspeisen, sondern grundsätzlich für alle ans Netz angeschlossenen Anlagen (Ausnahmen: Anlagen mit einer Anschlussleistung von höchstens 30 kVA oder einem jährlichen Betrieb von maximal 50 Stunden), auch wenn diese den produzierten Strom vollständig vor Ort selber verbrauchen.

HKN, der Erneuerbare-Energien-Ablasshandel
Die Idee, mit Herkunftsnachweisen (HKN) für jede Kilowattstunde zu belegen, aus welcher Energiequelle der Strom stammt, ist grundsätzlich positiv. Leider funktioniert die Umsetzung nicht so, wie es europaweit angedacht war. In der Realität ist das System der Herkunftsnachweise zu einem regelrechten Ablasshandel geworden. So können zum Beispiel günstige HKN aus norwegischer Wasserkraft im Sommer günstsig eingekauft werden, um zum Beispiel Kohlestrom aus Deutschland im Winter reinzuwaschen und diesen als 100 % erneuerbares Produkt zu verkaufen. HKN kann man kaufen, es ist aber nicht verpflichtend. Und genau hier liegt der Haken. Damit das System funktioniert, müsste der gesamte europäische Stromhandel an HKN geknüpft werden, das heisst, auch für Strom aus Kohle- oder Atomkraft müssten HKN ausgestellt werden, die belegen, dass der Strom genau aus diesen Quellen stammt. Wie viel der 68 % unseres Anteils an erneuerbarem Strom wurden also reingewaschen? Dazu schweigt die Erhebung des BFE.

Mehr Ehrgeiz bitte!
Unsere Grossmütter und Grossväter, Mütter und Väter haben mit dem Bau unserer Wasserkraftwerke Pioniergeist gezeigt. Unsere Generation indes ruht sich auf den Lorbeeren aus und fühlt sich nicht einmal schlecht dabei. Und die Atombranche lobbyiert gekonnt dafür, dass ihre AKW so bald nicht abgestellt werden können. Denn Strom kommt aus der Steckdose, warum also sollten wir uns darum kümmern?! Derweil zeigen die Strom-Börsenpreise, dass unsere Strategie nicht aufgeht: Die Preise in der Schweiz sind deutlich höher als die in Deutschland, wo der Anteil an Solar- und Windstrom schon bald höher sein wird als unser Wasserstromanteil. Uns fehlt ganz einfach der Ehrgeiz!

Cockpit Stromkennzeichnung 2017 >>

www.stromkennzeichnung.ch

Kommentar: Anita Niederhäusern, leitende Redaktorin und Herausgeberin ee-news.ch, Quelle Daten: Bundesamt für Energie

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2 Kommentare

Max Blatter

Klar stammt der größte Teil der 68% "Erneuerbaren" aus lange bestehenden Wasserkraftwerken. Die Umwelt dankt uns aber auch dies (und ächzt unter den Kohlekraftwerken Deutschlands und Österreichs). Und dennoch: Auch bei uns wuchs die Windenergie-Produktion von 2010 bis 2017 im Schnitt um rund 20% pro Jahr, die Produktion aus Fotovoltaik gar um über 50% pro Jahr! Mir ist nachhaltige "Eile mit Weile" lieber als die bundesdeutsche Hektik, "dank" der man PV-Anlagen über Mittag abschalten muss, weil der Ausbau der Netze nicht mithält.

wellingtonia

Liebe Anita
Richtig deine Erkenntnis zur schweizer Energiezukunft. Bis anhin wurden Kleinproduzenten von alternativen Energien mit hohen Hürden am Marktzutritt gehindert.
Mit der neuen (vorgeschriebenen) Generation Stromzähler wäre ein freier Marktzutritt problemlos möglich. Aber die Lobbyisten schauen natürlich zuerst mal für's eigene "Gärtchen". Ihnen ist auch die Erreichung der Energieziele sch...egal. Namhafte Politiker streuen regelmässig fakes zur Verunsicherung der Endkunden.

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