Boris Palmer, der umtriebiger Oberbürgermeister Tübingens, ist der Wirbelwind hinter der Solarpflicht. ©Bild: Gudrun de Maddalena

Der Tübinger Marktplatz ist seit vielen Jahrhunderten der Mittelpunkt städtischen Lebens. Dort befindet sich unter anderem das Rathaus, dessen Ursprünge bis 1435 zurückreichen. ©Bild: Simon Schmincke

Tübingen: Führt als erste Stadt Deutschlands Photovoltaikpflicht für Neubauten ein

(©BJ) Boris Palmer, der umtriebige Oberbürgermeister Tübingens macht Nutzung der Sonne zur Pflicht – wer selbst nicht investieren möchte, kann sein Dach auch anderen überlassen. Die Stadt mit knapp 90’00 Einwohner im Bundesland Baden-Württemberg, gehört mit einem Durchschnittsalter von 40 Jahren zu den jüngsten Deutschlands. Der Gemeinderat hat das Solarkonzept im Juli mit satter Zwei-Drittel-Mehrheit absegnet.


Er ist ein Macher, und das nicht erst seit Kurzem. Als Boris Palmer Mitte der neunziger Jahre in Tübingen studierte, setzte er – damals bereits als Referent für Umwelt und Verkehr in der Studentenvertretung aktiv – in der Unistadt Nachtbusse durch. Mit der ihm eigenen Kreativität warb er dafür auf seiner Internetseite nachtbussi.de. Schon damals war klar: Von dem Mann wird man noch hören.

Nach seinem Studium der Mathematik sass Palmer sechs Jahre für die Grünen im Landtag von Baden-Württemberg, gab sein Mandat aber ab, als er 2007 zum Oberbürgermeister von Tübingen gewählt wurde. Heute ist er der wohl umtriebigste OB einer deutschen Mittelstadt. Als solcher trat er immer wieder bundesweite Debatten los, etwa, als er bei seinem Amtsantritt einen japanischen Dienstwagen wählte, weil es aus Deutschland damals ein entsprechendes Hybridfahrzeug nicht gab – was im Autoländle vielfach als Affront gewertet wurde.

Mit grosser Mehrheit
Jetzt hat der Sohn eines durch sein Rebellentum gegen das schwäbische Politestablishment prominent gewordenen Obstbauern einen neuen Coup gelandet: Auf seine Initiative hin führt Tübingen als erste Stadt Deutschlands eine Photovoltaikpflicht für Neubauten ein. Einen entsprechenden Grundsatzbeschluss fasste der Gemeinderat kürzlich mit grosser Mehrheit. Die Mindestleistung der Anlagen wird noch durch die Stadtverwaltung zu definieren sein.

Formal verankert wird die Auflage in den Grundstückskaufverträgen, sofern die Stadt der vorherige Grundbesitzer ist. In den anderen Fällen wird die Pflicht über einen städtebaulichen Vertrag geregelt. Die Stadt sieht sich dazu durch das Baugesetzbuch legitimiert, räumt aber ein, dass es zur Frage der Zulässigkeit einer solchen Auflage natürlich noch keine einschlägigen Urteile gebe.

Bereits erprobtes Konzept
Allerdings hat Tübingen ein entsprechendes Konzept in seinem grössten Baugebiet auf dem Güterbahnhof-Areal in den vergangenen zwei Jahren bereits durchgezogen. Alle Bauherren hätten die Photovoltaik-Pflicht dort akzeptiert, sagt Palmer. Auf der sechs Hektar grossen Fläche wird nun jedes Haus eine Solaranlage bekommen, womit eine Gesamtleistung von etwa zwei Megawatt zusammen kommt. Damit steigt die Photovoltaikleistung in der Stadt um rund 20 Prozent. Weil das so reibungslos lief, wird eine entsprechende Regelung nun in der ganzen Stadt greifen.

Pflicht in Marburg gab Ärger
Einzelne Anläufe mit ähnlichem Ziel hatte es in deutschen Kommunen schon früher gegeben. Am offensivsten hatte einst Marburg agiert, wo das Stadtparlament im Juni 2008 per Satzung die Bauherren zur Nutzung der Solarthermie verpflichtete: Je 20 Quadratmeter Geschossfläche wurde bei Neubauten oder Gebäudeerweiterungen die Installation von einem Quadratmeter Kollektoren vorgegeben.

Das gab allerdings Ärger. Das Regierungspräsidium in Giessen hielt die Solarsatzung für unzulässig und hob das Regelwerk per Verfügung wieder auf. Eine überarbeitete Fassung, nun in Abstimmung mit dem Regierungspräsidium, folgte im Oktober 2010. Diesmal jedoch war es das Land Hessen, das dazwischen funkte, indem es flugs die Landesbauordnung änderte; die Regelung, nach der Kommunen Vorschriften über „besondere Anforderungen an bauliche Anlagen“ erlassen können, wurde gestrichen – und der Marburger Solarsatzung war die rechtliche Grundlage entzogen.

In der Folge legte die Stadtplanung der Universitätsstadt fest, dass bei neuen Bebauungsplänen 30 Prozent der Dachflächen von Neubauten mit Solaranlagen ausgerüstet werden sollen. Aber diese Vorgabe betrifft eben nur Flächen mit neuen Bebauungsplänen. Die ursprüngliche Solarsatzung hingegen hätte den Einsatz regenerativer Energieträger auch bei wesentlichen Änderungen am Dach oder dem Austausch der Heizungsanlage zur Pflicht gemacht. „Dabei orientierten sich die damals Verantwortlichen der Stadt Marburg an einem baden-württembergischen Landesgesetz“, erklärt eine Sprecherin der Stadt. Doch Marburg ist Hessen, und mit der Änderung der Hessischen Bauordnung war eine Auflage für Bestandsbauten nicht mehr möglich.

Grundstückskaufverträge als Basis für die Pflicht
Im Schwäbischen sagt nun OB Palmer, er habe Marburg „aufmerksam verfolgt“, und deswegen gehe Tübingen einen ganz anderen Weg. Statt dies über eine kommunale Satzung zu regeln, nutzt Tübingen den Hebel der Grundstückskaufverträge. In diese nämlich könne man alles reinschreiben, was nicht sittenwidrig ist, sagt der Rathauschef. Ähnlich grossen Spielraum habe man in städtebaulichen Verträgen. Da in Tübingen neue Baugebiete aber ohnehin nur noch ausgewiesen werden, wenn zuvor alle Grundstücke an die Stadt verkauft sind, greift in der Regel die Baupflicht über den Kaufvertrag – was stets der eleganteste Weg ist.

Umfasst von dem Beschluss sind alle Objekte, „bei denen die vorgesehene Bebauung einen Strombedarf bedingt“, also auch gewerbliche und öffentliche Gebäude. Bedingung ist aber, dass eine Solarstromanlage „mit einem wirtschaftlich angemessenen Aufwand errichtet und betrieben werden“ kann. Dieser Passus soll auch der Rechtssicherheit dienen. Und natürlich der Akzeptanz.

Die Ausnahmen
Die Einschränkung könnte zum Beispiel für ein Haus greifen, das im Schatten eines Hochhauses steht. Aber im Tübinger Rathaus ist man überzeugt, dass solche Sonderfälle selten sein werden. Eine Ausnahme soll es ferner für Bauten geben, die auf ihrem Dach eine definierte Menge Solarthermie nutzen.

Der Beschluss soll die Stadt ihrem Ziel näher bringen, die CO2-Emissionen pro Kopf bis 2022 gegenüber dem Wert von 2014 um 25 Prozent abzusenken. Ein solcher Fortschritt sei nur unter Mitwirkung der Bürgerschaft möglich, betont die Stadtverwaltung in ihrer Beschlussvorlage zur Solarpflicht.

Eigenverbrauch muss aufs Dach!
Die Optionen bei den Erneuerbaren sind in Tübingen – wie in vielen Ballungsräumen – überschaubar. Da das nutzbare Potenzial der Wasserkraft in der Stadt ausgeschöpft sei, die Windkraft auf städtischem Gebiet am Naturschutz scheiterte, Klärgas bereits vollständig verstromt werde und eine zusätzliche Nutzung von Biogas nicht absehbar sei, biete im Stromsektor alleine die Photovoltaik noch „ein grosses, einfach nutzbares Potenzial“. Da es zugleich nutzbare Freiflächen in Tübingen nicht gibt, und ohnehin der Eingriff in die Natur durch Freiflächenanlagen zu gross sei, spreche alles für Dachanlagen, sagt Palmer. Zumal diese auch strukturell viel sinnvoller seien: „Für den Eigenverbrauch muss man aufs Dach.“

Alternative Pachtmodell
Gebäudeeigentümer, die die Investition in eine Solarstromanlage scheuen, werden dazu nicht verpflichtet. Sie können alternativ ein Pachtmodell nutzen. Der Gemeinderat machte die Existenz eines solchen gar zur Voraussetzung für seine Zustimmung: Die Baupflicht gilt laut Ratsbeschluss nur so lange, wie „für den Bauherren Wahlfreiheit zwischen Eigentum und Pacht gegeben ist.“

Die Stadtwerke Tübingen haben bereits ein entsprechendes Angebot ausgearbeitet, sie planen auf Wunsch die Anlage, finanzieren und warten sie. Aufgrund der Pachtkonstruktion können die Bewohner den Solarstrom dennoch als Eigenstrom nutzen. Der Kunde zahlt die Anlage dann über seine Stromrechnung ab: Im Gegenzug zum günstigen Eigenstrom wird eine monatliche Pacht für die Anlage fällig. In der Summe, rechnet Oberbürgermeister Boris Palmer vor, werden die Verbraucher, bezogen auf ihre Gesamtstromrechnung, dank Photovoltaik auf einen Preisvorteil von etwa zwei Cent je Kilowattstunde kommen.

In der Praxis dürfte das Pachtmodell jedoch eine Lösung für die Nische sein. Die Stadtwerke, die schon Pachtanlagen anboten, bevor es die PV-Pflicht gab, machen die Erfahrung, dass die weitaus meisten Bürger ihre Anlage lieber selbst finanzieren. Und es gibt keinen Grund, warum sich das ändern sollte, zumindest solange die Zinsen auf dem aktuell extrem niedrigen Niveau verharren.

Sehr sachliche Diskussion
Nachdem im Juli der Gemeinderat von Tübingen mit satter Zwei-Drittel-Mehrheit das Solarkonzept absegnete, teilte der Rathauschef per Facebook mit: „Ich bin sehr stolz darauf, wie Stadt und Rat in die Rolle ökologischer Pioniere geschlüpft sind.“ Die vorausgegangene Diskussion im Gemeinderat sei „sehr sachlich“ verlaufen.

Aber warum braucht es überhaupt eine Pflicht, wenn die Vorteile der Photovoltaik für den Hausbewohner doch auf der Hand liegen? Schliesslich ist die Photovoltaik, wie Palmer sagt, „in der Stadt die billigste und beste Stromquelle“. Palmer erklärt: Trotz der Vorzüge seien in Tübingen allenfalls fünf Prozent der Dachflächen genutzt. Und das zeige bereits, dass eine Pflicht zur Nutzung von Photovoltaik nötig sei. Denn viele Bürger beschäftigten sich trotz der Vorteile nicht mit dem Thema – und liessen diese Chance dann ungenutzt.

©Text: Bernward Janzing

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1 Kommentare

Max Blatter

Damit die Wachstumsraten bei der Fotovoltaik beibehalten können (die übrigens auch in der Schweiz sehr erfreulich sind), muss man neben der Produktionsseite auch die Energieverteilung, -speicherung und -nutzung im Auge behalten. Eigenbedarf, schön und gut, aber Überschüsse wird es immer geben. Dezentrale Batterispeicherung? Da habe ich meine Fragen aus ökologischer Sicht! Also müssen die EVU ihre Infrastruktur anpassen (Transitkapazitäten, zentrale Speicher, aber auch - m.E. sehr zukunftsträchtig - Power-to-Gas oder Power-to-Fuel). Die Installation von PV-Anlagen zu forcieren, setzt die EVU unter Druck, in diese Dinge zu investieren. Das mag gut und notwendig sein, aber neben dem Druck brauchen die EVU auch Unterstützung. Dies darf nicht vergessen werden!

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