Steifer Wind weht in 700 Meter Höhe über Bergkuppen des Dorfs Yaylaköy, in dem fast nur noch alte Menschen wohnen. Die Minarette der kleinen Moschee ragen trotzdem wacker in den Himmel. ©Bild: Jörg Böthling

Die türkischen Regierung deklarierte vor einigen Jahren Ziel von 20‘000 Megawatt Windleistung bis Ende 2023. ©Bild: Jörg Böthling

Türkei: Windenergie im Auftrieb

(©DJ) Die türkische Wirtschaft wuchs in den letzten zehn Jahren rasant. Gleichzeitig stieg der Energieverbrauch in schwindelerregende Höhen. Nur Chinas Energiehunger ist noch höher. Dabei soll neben Kohle- und Atomkraftwerken ein rascher Zubau der erneuerbaren Energien die Stromnachfrage sicherstellen. Daher sind die gegenwärtigen Perspektiven für den Ausbau der türkischen Windenergie gut.


Gebeugt vom ägäischen Wind stehen Olivenbäume und Pinien an den karg Berghängen der türkischen Halbinsel Karaburun. Knapp zwei Autostunden westlich von Izmir entfernt herrscht ausserhalb der Sommersaison nur wenig Verkehr auf den engen Serpentinen hinauf zum Dorf Yaylaköy, in dem fast nur noch alte Menschen wohnen. Die Minarette der kleinen Moschee ragen trotzdem wacker in den Himmel. Steifer Wind weht in 700 Meter Höhe über Bergkuppen.

50 getriebelose Anlagen
Ein Mitarbeiter vom Serviceteam des deutschen Windenergieanlagen-Herstellers Enercon öffnet die Ausstiegsklappe des Maschinenhauses einer 3-MW-Megawatt-Turbine. Am Meereshorizont sind unscharf die Konturen der griechischen Insel Chios zu erkennen. Aus der Vogelperspektive sind die zahlreichen Schneisen, die für den Transport der Bauteile der Windenergieanlagen angelegt wurden, sichtbarer als in Bodennähe. Insgesamt schon 50 getriebelose Windenergieanlagen vom Auricher Hersteller stehen hier im weitläufig angelegten Windpark des Betreibers Lodos Energy. Das in Istanbul ansässige Unternehmen hat auf der westanatolischen Halbinsel rund 260 Millionen Euro investiert. Aber nicht genug. Lodos plant eine Erweiterung des bestehenden Parks um das Doppelte.

Durchschnittlich 7.5 Meter pro Sekunde
„Wir haben an diesem Standort einen extrem guten Wind, im Durschnitt weht er 7.5 Meter pro Sekunde“, verrät Serkan Özgel vor dem Umspannwerk. Er ist 25 Jahre alt, kommt ursprünglich aus Ostanatolien, studierte im Istanbuler Stadtteil Beşiktaş Elektrotechnik und ist mit einer bemerkenswerten Souveränität verantwortlich für ein Team von 13 Mitarbeitern, die die Anlagen des 120-MW-grossen Windparks warten. Der aufgeweckte Özgel wünscht sich insgeheim, dass sich die türkische Energiepolitik eindeutiger als bisher für die erneuerbaren und gegen die fossilen und atomaren Energien bekennt.

Förderung der Erneuerbaren…
Doch fährt die türkische Energiepolitik zweigleisig. Zwar fördert sie zum einen den Ausbau der erneuerbaren Energien ausdrücklich. So garantiert das im Jahr 2011 verabschiedete Gesetz zur Förderung der erneuerbaren Energien (YEK) den Erzeugern von Strom aus Wind, Biogas und Wasser festgelegte Einspeisevergütungen über einen Zeitraum von zehn Jahren. Beim Wind liegt die gegenwärtige Vergütung bei 7.3 Dollarcent plus einem Bonus von 1.4 Dollarcent, wenn Anlagenkomponenten im Binnenland gefertigt werden. Zudem sollen Geothermie-Kraftwerke mit einer Kapazität von 600 MW entstehen, ausserdem sind 3000 MW Solarenergie geplant und darüber hinaus will die türkische Energiepolitik die heute schon starke Wasserkraft, die gegenwärtig rund ein Viertel der Stromversorgung sicherstellt, durch 500 weitere Wasserkraftwerke auf am Ende 36‘000 MW Leistung hochschrauben.

… und Einstieg in die Atomenergie
Doch will man parallel dazu die Kohlekraft mit rund 10‘000 MW Zubau auf den Weg bringen, auch wagen die Türken in den Einstieg in die Atomwirtschaft. Dafür hat die Türkei vor kurzem einen 22-Milliarden-Dollar-Deal mit einem japanisch-französischen Konsortium für den Bau eines zweiten Kernkraftwerks in der Schwarzmeer-Provinz Sinop abgeschlossen. Der Bau eines ersten Kernkraftwerks wurde bereits im Jahr 2010 mit der russischen Firma Rosatom vereinbart. Es soll von 2019 an in Mersin errichtet werden. Welches Motiv nötigt die türkische Regierung zu dieser fragwürdigen Doppelstrategie? Es ist letztlich wohl die rasant wachsende Nachfrage nach Energie, die nur in China noch höhere Zuwachsraten verzeichnet. Eine Trendwende ist nicht in Sicht: Die Bevölkerung wächst weiter, die Verstädterung nimmt bei gleichzeitiger Landflucht dramatisch zu und eine zumindest in den letzten Jahren atemberaubend dynamische Wirtschaft wies jährliche Zuwachsraten auf, die oft weit über fünf Prozent lagen.

Effizienz tut Not
Überdies leisten sich die Türken einen bislang immer noch verschwenderischen Umgang mit den vermeintlich endlosen Energieressourcen, was in einem Land ohne eigene Ölvorkommnisse und bei der dramatischen politischen Gesamtsituation im Nahen Osten umso bemerkenswerter ist. Um nun nicht in einen Versorgungsengpass zu geraten, versucht die türkische Regierung aber offenbar, alle Register in der Energiewirtschaft zugleich zu ziehen. Dies wird von vielen Experten kritisiert. So auch vom türkischen „Botschafter für 100 Prozent erneuerbare Energie“, Prof. Dr. Tanay Sidki Uyar. Er leitet an der Marmara-Universität in Istanbul die Sektion Energie und ist Präsident des Erneuerbaren Energieverbandes Eurosolar Türkei. „Wenn man mit dem Bau von Atomkraftwerken tatsächlich beginnen sollte, dann wird es mit Atommüll-Lagerstätten enden“, warnt der Promoter für eine nachhaltige und ungefährliche Energieversorgung. „In der Türkei stehen genug erneuerbare Energiequellen zur Verfügung, die schon heute preisgünstiger sind als konventionelle Erzeugungsformen“, hält er dagegen. „Ich denke, dass wir zusammen mit dem grossflächigen Einsatz von energieeffizienten Technologien das türkische Energiesystem auf 100 Prozent erneuerbar umstellen können, vorausgesetzt die politischen Entscheidungsträger machen mit.“

Schnelle Baugenehmigungen für Kohlekraft
„Dabei will die Türkei doch die erneuerbaren Energien“, versucht Dr. Ruchan Hamamci die Aufmerksamkeit auf den Ausbau von Strom und Wärme aus Wind, Sonne, Biomasse, Geothermie zu lenken. Der in Istanbul ansässige Bau-Ingenieur hat seit vielen Jahren erfolgreich Windprojekte in der Türkei realisiert. Zuerst für die Holding Eksim, einem Mischkonzern, der in den Märkten Bergbau, Lebensmittel, Energie und Bau aktiv ist. Seit September 2014 für die Sakan Gruppe, deren Hauptaktivitäten bisher im Pharmazie-Bereich lagen und die jetzt intensiv in erneuerbare Energien investieren will. Hamamci weiss aus eigener Erfahrung genau um die starke Lobby der Kohle- und Atomindustrie. Sie übe nach wie vor einen grossen Einfluss auf die türkische Energiepolitik aus. So erhalten Akteure im Bau von Kohlekraftwerken oft schnelle Baugenehmigungen, während die bürokratischen Hürden im Windenergiesektor immer noch sehr hoch sind. Ganz abgesehen davon, dass das Stromnetz an vielen Orten nicht die notwendigen Kapazitäten aufweist. „Das Hauptproblem aber ist, dass für Genehmigungen im Windbereich viele Behörden mehrerer Ministerien zuständig sind. Das ist nicht selten Roulette“, klagt Hamamci.

Insgesamt 4000 MW
Doch trotz dieser Hürden, die Windenergie nimmt in der Türkei weiter kräftig Fahrt auf. Allein in 2014 gab es einen Zubau von rund 1000 Megawatt; damit liegt die gesamte installierte Leistung im Land zwischen Mittelmeer und Schwarzen Meer bei rund 4000 Megawatt. An diesem Aufschwung sind auch viele Unternehmen aus Deutschland beteiligt, ob nun Hersteller wie Nordex, Siemens und Enercon oder Energiekonzerne wie EnBW und E.on - um nur einige zu nennen.

Aber auch die Windsparte vom amerikanischen Energieriesen GE wittert Morgenluft. Während die Bauern in den Ebenen nördlich der Stadt Akhisar in der Provinz Manisa auf ihren Äckern Chili, Baumwolle und Okra ernten – nicht selten trifft man hier auch Flüchtlinge aus Syrien, die sich hier als Erntearbeiter verdingen - drehen sich in den staatlichen Pinienwäldern auf den Kuppen einer Mittelgebirgskette zehn neu errichtete Anlagen von GE. „Für den Bau mussten 30 Hektar Wald weichen“, bedauert Ilker Ilhan, Mitarbeiter des Betreibers Gama Enerji A.Ş aus Ankara. „In 2015 Jahre bauen wir hier in der Region mit 2.75-MW-Anlagen von GE einen weiteren Windpark mit einer Leistung von 35 MW hinzu“, erzählt Ilhan nach einer kurzen abendlichen Gebetspause weiter.

Grosse Windparks ohne Bürgerbeteiligung
Am Beispiel der Firma Gama ist beispielhaft zu erkennen, dass die Betreiberstruktur in der Türkei eine vollkommene andere ist als in Deutschland bzw. Mitteleuropa. Während in Mitteleuropa nach wie vor Bürgerbeteiligungsmodelle mit regionaler Verankerung als Investoren von Windparks eine Rolle spielen, fehlt diese regional geprägte mittelständische Partizipation in der Türkei. Dort sind es in der Regel Industrieunternehmen, die im grossen Massstab in Windparks von 30 Megawatt Leistung und mehr investieren. Dimensionen, die für viele lokale Akteure finanziell nicht zu stemmen sind. Deshalb nehmen diese an den Ausschreibungsverfahren auf Basis des türkischen Erneuerbaren-Energien-Gesetzes (YEK) zumeist nicht teil.

20‘000 MW bis 2023?
Ungeachtet der Betreiber- und Investorenstrukturen gibt die türkische Windenergiebranche derzeit mächtig Gas, um das von der türkischen Regierung vor einigen Jahren deklarierte Ziel von 20‘000 Megawatt Ende 2023 – passend zum 100. Jubiläum der Republikgründung – doch noch zu erreichen. Dass diese Zielvorgabe tatsächlich realisiert werde, glaubt selbst ein optimistisch gestimmter Hamamci nicht. Allerdings hält er 15‘000 Megawatt für durchaus realistisch. Kein Zweifel: Es bewegt sich viel an den Gestaden von Schwarzmeer, Ägäis und Mittelmeer.

©Text: Dierk Jensen

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