Das novatlantis Bauforum Zürich 2014 stellte aktuelle Projekte und Meinungen vor. ©Bild: novatlantis Bauforum Zürich 2014

Bauforum Zürich: Wohnqualität in der verdichteten Stadt

(PM) Fachleute der Stadtplanung, Architektur und Bauwirtschaft suchen nach energie- und ressourcenschonenden Möglichkeiten der Verdichtung – ohne Verlust von Wohnqualität. Das novatlantis Bauforum Zürich 2014 stellte im August aktuelle Projekte und Meinungen vor.


Mit dem Schwerpunkt „Stadtvision 2050 – Wohnqualität in der verdichteten Stadt: Mehr als Energie- und Ressourceneffizienz?“ fand im August das novatlantis Bauforum Zürich 2014 statt. Nach der Begrüssung und einer Einleitung in das Thema durch die neue novatlantis-Geschäftsführerin Anna Roschewitz überliess sie den Anwesenden die Frage „Wie sieht Wohnqualität für Sie konkret aus?“ und übergab das Wort an die Referierenden.

Architektonische Freiheit mit städtebaulichen Vorgaben
Es bestehen zwei Formen „extremer architektonischer Freiheit“, so Kees Christiaanse, Professor für Architektur und Städtebau an der ETH Zürich. Die komplette Freiheit führt aus seiner Sicht zu vollständiger – und nicht erstrebenswerter – Unordnung. Empfehlenswert sei daher eine Verbindung aus architektonischer Freiheit und städtebaulichen Vorgaben, beispielsweise in Form von Gebäudetypologien. „Diversität ist von hoher Bedeutung für die Wohnqualität auf einer Parzelle“, so Christiaanse. Die von hoher Vielfalt geprägte HafenCity in Hamburg sei exemplarisch für städtebauliche Nachhaltigkeit infolge Verdichtung. Anhand von Rotterdam und Amsterdam erklärte er die Entwicklungen in den Niederlanden und den auf ehemaligen Hafenarealen entstandenen Kreativquartieren.

Die Messestadt Riem in München entstand 1992 nach der Verlegung des dort domizilierten Flughafens. René Sigg von Intep informierte über das rasant entwickelte Pilotprojekt zur Umsetzung der Leitlinien „München - kompakt, urban, grün“ als Verbindungselement zwischen dem Münchner Zentrum und umliegenden Regionen. Zentraler Baustein war ein 200 ha grosser Landschaftsgürtel im Süden des 500 ha grossen ehemaligen Flughafenareals, abgetrennt durch Infrastrukturanlagen wie Schulen. Nach Eröffnung der Neuen Messe 1997 folgte 2003 die Fertigstellung der ersten Wohngebiete.

Hauptziel gescheitert
Eines der Hauptziele sieht René Sigg als gescheitert: „Nur ein geringer Anteil der Wohnbevölkerung arbeitet und wohnt auch in Riem“. Beide Funktionen waren ursprünglich eng verknüpft. Darüber hinaus bemängelt er die Art der Umsetzung: „Heute würde ich mir wünschen, dass die Stadt München ihre Zielsetzung stärker forciert hätte. Nach stockendem Beginn verzeichnete das Projekt vor allem in den 2000ern eine boomartige Entwicklung – vermutlich zu schnell. Trotz ökologisch vorbildlicher Planung wurde zum jeweiligen Zeitpunkt lediglich nach aktuellem Stand der Technik gebaut. Dezentralere Lösungen hätten mehr Vorteile gebracht.“

Vielversprechende Baukultur
Die Resonanz auf die Baukultur hingegen ist vielversprechend. „Die Messestadt Riem ist eine Pilgerstätte für Architektinnen und Architekten“, lobt Sigg und schränkt gleichzeitig ein: „Die Bewohnenden erachten die Architektur jedoch als zu streng. Für sie ist die Erschliessung des Areals bedeutender.“ Und diese ist – anfänglich nur für den Messebetrieb vorgesehen - in Riem vorbildlich. „Die Identifikation der Wohnbevölkerung mit ihrem Wohnort ist trotzdem sehr hoch.“ Die Gründe sieht Sigg im Mitspracherecht der verschiedenen Nutzergruppen bei der Ideenfindung.

„Erfolg wider Erwarten“
Als „Erfolg wider Erwarten“ bezeichnete Jürg Graser von Graser Architekten ETH SIA BSA in Zürich die Sanierung von „Le Lignon“ in Genf. Der Bau von 1963 ist mit 1600 Meter Länge das grösste Wohngebäude Europas. Die 16 Geschosse waren ursprünglich für 10‘000 Personen konzipiert und der Wohnungsknappheit in der Schweiz geschuldet. Heute fasst der Baukoloss rund 7000 Personen in 5700 Wohnungen und steht aufgrund seiner Einzigartigkeit unter Denkmalschutz. Laut Graser besitzt der aus heutiger energetischer Sicht in der Ursprungsform nicht mehr zu realisierende Bau weiterhin seine Existenzberechtigung: „Die Wohnungen sind aus meiner Sicht auch für heutige Bedürfnisse tauglich. Das trifft ebenso für die Beton-Schotten-Struktur der Aussenwandkonstruktion zu. Die tektonische Fassade erzeugt zudem ein Wechselspiel aus dem Grossteiligen in das Detail und vom Detail in das Ganze. Daraus ergibt sich eine hypnotische Wirkung. Le Lignon besitzt zudem eine intakte Nachbarschaft – ein nicht zu vernachlässigender Wert.“

Neunmonatige Sanierungsphase
Graser stellte verschiedene konstruktive Möglichkeiten zur Gebäudehüllensanierung vor. Ohne Gerüstbauten an den Längsseiten kam bei Le Lignon lediglich die bestehende Fassadenbefahranlage zur Anwendung. Der Bewohnerschaft blieben Einschränkungen im Wohnen erspart, die sich durch das Gerüst mit der neunmonatigen Sanierungsphase ergeben hätten. Der Auf- und Abbau ist in der Regel mit Beschädigungen verbunden. Die Curtain-Wall-Fassade aus Aluminiumprofilen und Glaselementen hätte zudem eine Montage der Gerüstanker verhindert.

Vielzählige Tiefeneingriffe
Graser kritisierte die vielzähligen Tiefeneingriffe bei Sanierungen - „Man kann generell sehr viel sanfter sanieren, als es momentan in der Schweiz der Fall ist“ - anhand des Gymnasiums Strandboden in Biel. Am ursprünglichen Bau des Architekten Max Schlupp wurde 80 Prozent der Gebäudesubstanz erneuert. Die Sanierung der von Fritz Haller erbauten Kantonsschule in Baden hält er dagegen für sehr gelungen.

Siedlungslandschaften gemeinsam entwickeln
Ulrike Wissen Hayek, Planung von Landschaft und Urbanen Systemen, (PLUS), Institut für Raum- und Landschaftsplanung (IRL), ETH Zürich, schätzt diese Herangehensweise mit Blick auf die Prozessgestaltung zur Entwicklung integrierter Ansätze. Eine elementare Notwendigkeit ihrer Arbeit ist „das Verständnis für die vielfältigen Wechselwirkungen zu ergründen – beispielsweise von Mensch und Umwelt. Das momentane Ziel ist die Begrenzung der Siedlungsausdehnung und dies erfolgt über Innenentwicklung.“

Iteratives Formulieren der Prioritäten
Das NFP-65-Projekt „Sustainable Urban Patterns“ (SUPat) fokussiert sich auf das prozedurale Konzept. Die Bedürfnisse der Nutzer sind für diesen Prozess grundlegend: „Es ist wichtig, dass das Formulieren der Prioritäten iterativ geschieht. Wenn sich dadurch die Werthaltung der Prioritäten ändert, führt es zwangsläufig wieder an den Anfang – zu den Bedürfnissen der Bevölkerung.“ Das dichtbesiedelte Limmattal bietet hohes Potenzial bei der Entwicklung nachhaltiger Siedlungsmuster. Die Bedürfnisse der Bewohner integrierte man mithilfe von Befragungen in den Kollaborationsprozess zur bewussten Gestaltung und perspektivischen Planung des Limmattals.

Baulich und sozial verdichtet
In Zürich wird neu und verdichtet gebaut. Das im Zürcher Glattpark geplante 16‘000 m2 grosse Aquatikon besteht aus vollständig rezyklierbaren Baustoffen und integriert das Wasser technisch sowie gestalterisch in die Fassade und den Innenraum. Das Gebäude bedient sich thermischer Bauteilaktivierung, elektrochromer Verglasung, einer Raumtiefenausleuchtung und der Verdunstungskühlung über Salinen und Regenwasser. Der Kühlkreislauf führt vom Regenwasserbecken auf dem Dach bis in das Auffangbecken im zweiten Untergeschoss. Die externe Kühlenergie reduziert sich somit um 25 Prozent. Eine Photovoltaikanlage mit einer Kollektorfläche von 1000 m2 deckt 80 Prozent des Stromverbrauchs. Ein zentrales Atrium versorgt die einzelnen Geschosse bis zur Tiefgarage mit Tageslicht und mindert den Verbrauch von Beleuchtungsenergie. Anhand des Achsmasses von 1.35 m sind Büroräume von 250 m2 bis 16000 m2 flexibel realisierbar. Ralf Bellm des Bauherrn Hochtief Development Schweiz AG sieht einen visionären Bau: „Themen, die die Zukunft betreffen, sollten nach unserer Ansicht über das Aktuelle hinaus gehen.“ Das Aquatikon ist bereits mit Minergie-P-Eco vorzertifiziert und hat zudem das LEED-Label erhalten.

Lebensmodell der 2000-Watt-Gesellschaft
Das Wohn- und Geschäftshaus Kalkbreite auf dem gleichnamigen Areal in Zürich ist auf Grundlage einer 2006 gegründeten Genossenschaft von Quartierbewohnenden realisiert worden und orientiert sich an einem Lebensmodell der 2000-Watt-Gesellschaft. Seit 2013 leben 238 Menschen in den 97 Wohneinheiten und 250 Personen arbeiten dort. Büros, Gewerbe und andere Dienstleistungen mit Kindergrippe, Kino und Räumlichkeiten für Greenpeace befinden sich auf rund 5000 m2 in den unteren Geschossen mit einem hohen Mass an Diversität. Der Trend zur verringerten Wohnfläche pro Person wurde in der Planung berücksichtigt. „Das Ziel waren 35 m2 pro Person, wir erreichten schliesslich 31 m2 pro Person“, erläutert Pascal Müller von Müller Sigrist Architekten. Er beschreibt den technischen Aspekt des Gebäudes als langwierigen Vorgang: „Die Einstellung der Technik – das Regeln der Lüftung etc. – ist natürlich ein aufwändiger Prozess, der auch Probleme beinhaltet.“ Die Kalkbreite ist provisorisch mit Minergie-P-Eco zertifiziert.

Wohnen und Arbeiten vereint
Der Bau mit städtischen Strukturen vereint mehr als nur Wohnen und Arbeiten. „Aus strategischen Gründen gab es eine Nutzungsmischform. Gleichzeitig integriert die Kalkbreite eine Tramhalle mit Stellplätzen der VBZ. Das Gebäude gibt dem Quartier damit eine völlig neue Identität“, erklärt Müller die Bedeutung des Komplexes. Der soziale Faktor steht klar im Zentrum. „Die Erschliessungskaskade zieht sich wie ein roter Faden durch das Gebäude. Begonnen im Foyer, verbindet sie auf den Geschossen die Wohnungen mit den Gemeinschaftsräumen und endet auf den Dachgärten mit anschliessender Terrasse. Sinnbildlich für das Zusammenleben in der Kalkbreite animiert die Kaskade zum Teilhaben an der Gemeinschaft.“ Die Dächer umgeben als Gürtel die halböffentliche Terrasse im zweiten Obergeschoss. Der Aussenbereich ist mit 2500 m2 Zentrum des sozialen Lebens in der Kalkbreite. Nur öffentlich über eine steile Treppe erreichbar, ist sie den Bewohnenden als private Zone vorbehalten und soll die Balkone ersetzen. Müller formulierte hieraus eine der Kernaussagen dieser Veranstaltung: „Um baulich verdichten zu können, braucht es auch eine soziale Verdichtung. Es bedingt ein umfangreiches Nutzungsangebot mit Flexibilität.“

Lebhafte Diskussionen
Die Schlussworte gehörten der novatlantis-Geschäftsführerin Anna Roschewitz. Sie dankte den Referierenden für die hochkarätigen Vorträge, allen Beteiligten für die lebhaften Diskussionen sowohl im Plenum als auch während des Innovationsapéros und entliess die Besuchenden in der Hoffnung einen „prallen Rucksack an neuem Wissen“ zu schultern. Das novatlantis Bauforum Zürich 2014 mit dem Schwerpunkt „Stadtvision 2050 – Wohnqualität in der verdichteten Stadt“ zeigte auf, dass ein verdichteter, energie- und ressourceneffizienter Lebensraum unverkennbaren Bezug zur Diversität besitzt, aber nicht zwingend mit dem Verlust an Wohnqualität einhergeht. Das nächste novatlantis Bauforum findet am 22. Januar 2015 in Luzern statt und wird bereits mit Spannung erwartet.

©Text: Morris Breunig, Faktor Journalisten AGnovatlantisBauforum Zürich 2014

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