Die Basis für die Auslegung von AKW bildeten in der Schweiz ursprünglich die Auslegungsanforderungen der Herstellerländer, konkret die Anforderungen in den USA (AKW Mühleberg, Beznau und Leibstadt) und in Deutschland (AKW Gösgen). Bild: ENSI

ENSI: Aktualisiert Auslegungsgrundsätze für Betrieb stehender Kernkraftwerke

(ENSI) Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat ENSI hat die Auslegungsanforderungen für Kernkraftwerke unter anderem im Hinblick auf auslegungsüberschreitende Störfälle den neuen internationalen Entwicklungen angepasst und verschärft. Ferner wurden verschiedene Regelungslücken geschlossen und die Lehren aus dem Reaktorunfall in Fukushima berücksichtigt. Teil 1 der neuen Richtlinie ENSI-G02 tritt nun in Kraft.


Die Richtlinie ENSI-G02 führt zudem die übergeordneten Sicherheitskonzepte wie das Schutzzielkonzept, das Barrierenkonzept und das Konzept der gestaffelten Sicherheitsvorsorge detaillierter aus. „Diese werden im Kernenergiegesetz und der Kernenergieverordnung zwar angesprochen, doch fehlten bisher im Regelwerk eine umfassendere Darlegung dieser Konzepte und Auslegungsvorgaben, die für deren Umsetzung notwendig sind“, erklärt Ralph Schulz, Leiter des Fachbereichs Sicherheitsanalysen. „Diese Lücke wird nun durch die Richtlinie ENSI-G02 geschlossen.“

Die neue Richtlinie wird nach der Inkraftsetzung des Teils 2 der Richtlinie ENSI-G02 die alten HSK-Richtlinien HSK-R-16, HSK-R-40, HSK-R-101 und HSK-R-103 ersetzen. Sie wird zudem mit aktuellen internationalen Anforderungen wie zum Beispiel denen der Western European Nuclear Regulators Association WENRA abgeglichen sein.

Zwei Herstellerländer mit unterschiedlichen Auslegungsanforderungen
Die Basis für die Auslegung von Kernkraftwerken bildeten in der Schweiz ursprünglich die Auslegungsanforderungen der Herstellerländer, konkret die Anforderungen in den USA (Kernkraftwerke Mühleberg, Beznau und Leibstadt) und in Deutschland (Kernkraftwerk Gösgen). Die Anforderungen in den beiden Ländern waren nicht identisch und verlangten in der Schweiz nach einer Anpassung der Auslegungsvorgaben.

In verschiedenen Richtlinien wie der HSK-R101 und anderen wurden die Regelungen festgehalten, die in der Schweiz anzuwenden sind. Ziel war ein für alle schweizerischen Kernkraftwerke vergleichbar hoher Stand der Sicherheit.

Neue Regelungsinhalte der ENSI-G02
Mit der Richtlinie ENSI-G02 werden verschiedene Neuerungen eingeführt. Dazu zählen unter anderem:

  • Die Definition der neuen Sicherheitsebene 4a für ausgewählte auslegungsüberschreitende Störfälle, die von den KKW beherrscht werden müssen (sogenannte „Design extension conditions“, DEC) inklusive zugehöriger Auslegungsvorgaben für benötigte Systeme und Ausrüstungen.
  • Die Konkretisierung der Auslegungsvorgaben gemäss Art. 10 Kernenergieverordnung KEV: da die bestehenden KKW diese ursprünglich für neue KKW formulierten Anforderungen naturgemäss nicht vollumfänglich erfüllen können, wird in der Richtlinie eine entsprechende Konkretisierung vorgenommen.
  • Innerhalb der ersten zehn Stunden müssen Auslegungsstörfälle mit Sicherheits- und Notstandssystemen beherrscht werden. Für die langfristige Beherrschung des Störfalls, insbesondere zum langfristigen Halten der Anlage in einem sicheren Zustand, sind auch der Einsatz von Systemen, Strukturen und Komponenten, welche nicht zu den Sicherheits- oder Notstandsystemen zählen, oder sicherheitsrelevante Handlungen des Betriebspersonals unter Zuhilfenahme von mobilen Mitteln zulässig. Die Verfügbarkeit oder Funktionalität der kreditierten Systeme, Strukturen und Komponenten muss aber nachgewiesen und die Handlungen müssen in Vorschriften geregelt sein.
  • Anforderungen an die Autarkie zur Störfallbeherrschung: das KKW muss mit den Mitteln, die auf dem Anlagenareal verfügbar sind, während mindestens 72 Stunden in einem sicheren Zustand gehalten werden können. Erst danach darf externe Hilfe kreditiert werden.
  • Diverse Anforderungen an (mobile) Notfallausrüstungen für auslegungsüberschreitende Ereignisse werden formuliert, unter anderem auch die Bereitstellung eines externen Lagers mit Notfallausrüstungen.

Auslegung versus Nachweis
Die Richtlinie ENSI-G02 ist eine Auslegungsrichtlinie und legt die Anforderungen an den Bau und an Nachrüstungen fest. Diese können sich nur am Regelwerk (Gesetze, Verordnungen, Richtlinien, Verfügungen) orientieren, das zum Zeitpunkt des Baus oder der Nachrüstung gültig war.

Ändern sich im Laufe der Betriebszeit eines Kernkraftwerks die Gefährdungsannahmen oder das Regelwerk, ist zu überprüfen, ob das Kernkraftwerk auch die geänderten Anforderungen erfüllt. Im Rahmen dieser Überprüfung müssen Nachweisvorgaben des Regelwerks, die zum Zeitpunkt der Überprüfung gültig sind, berücksichtigt werden. Dazu zählen namentlich die Richtlinien ENSI-A01, ENSI-A05, ENSI-A06, ENSI-A08 und ENSI-G14.

Falls die Überprüfung zeigt, dass der Nachweis mit den geänderten Nachweisvorgaben nicht erbracht werden kann, muss das Kernkraftwerk grundsätzlich nachgerüstet werden. Falls ein Kriterium zur Ausserbetriebnahme eines Kernkraftwerks vorliegt, muss das Kernkraftwerk vorläufig ausser Betrieb genommen werden, bis die Nachrüstungen umgesetzt sind.

Zum Umfang der Nachrüstungen gemäss Art. 82 Kernenergieverordnung für in Betrieb stehende Anlagen wird im erläuternden Bericht zur Verordnung ausgeführt: „Bezüglich der Nachrüstung bestehender Kernkraftwerke ist auf Art. 22 Abs. 2 Bst. g KEG hinzuweisen, wonach eine bestehende Anlage in dem Umfang nachzurüsten ist, dass sie möglichst weitgehend an den Stand von Wissenschaft und Technik angenähert wird, zumindest soweit, als dies nach der Erfahrung und dem Stand der Nachrüstungstechnik notwendig ist und darüber hinaus, soweit dies zu einer weiteren Verminderung der Gefährdung beiträgt und angemessen ist.“

Angemessenheit
In der Kernenergieverordnung wird die Umsetzung der Grundsätze für die Auslegung eines Kernkraftwerks selbst für neu zu errichtende Anlagen nicht absolut gefordert, sondern an mehreren Stellen „soweit möglich“. Damit hat der Verordnungsgeber das Prinzip der Angemessenheit berücksichtigt.

In der Richtlinie ENSI-G02 wird die Angemessenheit von Nachrüstungen für bestehende KKW konkretisiert. Darin formuliert das ENSI für die Verbindlichkeit der Auslegungsanforderungen  ein Spektrum, welches von „obligatorisch“ bis hin zu „soweit möglich und angemessen“ reicht. Die „obligatorischen“ Anforderungen sind zu erfüllen ohne Berücksichtigung der Verhältnis- beziehungsweise Angemessenheit, wohingegen in den anderen Fällen abweichende Lösungen sicherheitstechnisch zu bewerten sind und gegebenenfalls ausnahmsweise zulässig sind. Das ENSI prüft die vom Betreiber vorgeschlagenen Lösungen  und verlangt bei Bedarf Nachbesserungen. Der Massstab der Beurteilung durch das ENSI ist dabei Art. 82 Kernenergieverordnung.

Teil 2 der Richtlinie ENSI-G02 folgt 2017
Im zweiten Teil der Richtlinie ENSI-G02 werden spezifische Auslegungsanforderungen an bestimmte Systeme, Strukturen und Komponenten enthalten sein. Dieser wird voraussichtlich im kommenden Jahr in die öffentliche Anhörung geschickt.

Text: ENSI

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