Obwohl bis vor kurzem der Begriff der «Stromlücke» und die damit verbundene Angst vor steigenden Strompreisen die öffentliche Diskussion beherrschten, sank der Marktpreis für Grundlaststrom kontinuierlich auf historisch niedrige Werte. ©Bild: Swissgrid

Konstantinos Boulouchos, Professor für Aerothermochemie und Verbrennungssysteme, ETH Zürich. Bild: ETH Zürich

Durchschnittliche variable Kosten für verschiedene Kraftwerke ohne und mit CO2-Preis (qualitativer Vergleich – Angaben aus verschiedenen Quellen variieren je nach Region und Technologiestandard). (Grafik: Boulouchos / ETH Zürich)

Tiefe Strompreise bescheren der Kohle ein Comeback: Im Bild Kohlekraftwerk Scholven von E.ON. ©Bild: E.ON

Verzerrter Strommarkt: Sind die Erneuerbaren daran schuld?

(©KB/ETH Zukunftsblog) Der europäische Strommarkt durchlebt bewegte Zeiten: Die Strompreise feiern Tiefststände, und Kohle erlebt eine Renaissance, während Gaskombi- und Wasserkraftwerke kaum mehr rentieren. Die subventionierten erneuerbaren Energien seien schuld an den Marktverzerrungen, heisst es oft. Doch stimmt das?


In den letzten Jahren entstand im mitteleuropäischen Strommarkt eine in mehrfacher Hinsicht paradoxe Situation: Obwohl bis vor kurzem der Begriff der «Stromlücke» und die damit verbundene Angst vor steigenden Strompreisen die öffentliche Diskussion beherrschten, sank der Marktpreis für Grundlaststrom kontinuierlich auf historisch niedrige Werte [1]. Der sehr tiefe Preis für Grundlaststrom gefährdet die relativ umweltfreundlichen und flexiblen Erzeugungstechnologien wie Wasserkraft (insbesondere Pumpspeicherung) und Gaskombikraftwerke. Derweil boomt der umweltbelastende, aber reichlich verfügbare und billige Energieträger Kohle – mit negativen Auswirkungen für das Klima.

Die gedämpfte Nachfrage aufgrund der anhaltend schwachen Wirtschaftsentwicklung nach der Krise von 2008 kann diese Marktsituation nur teilweise erklären. Oft wird als Ursache zusätzlich die Einspeisevergütung für Photovoltaik genannt – vor allem jene von Deutschland, die auch die Schweiz durch ihre Vernetzung mit dem europäischen Elektrizitätssystem zu spüren bekommt. Im Folgenden möchte ich jedoch darlegen, dass die Ursache zum grössten Teil anderswo liegt.

Wie funktioniert die Stromerzeugung im freien Markt?
Die Nachfrage nach Elektrizität variiert kontinuierlich über die Zeit. Steigt die Nachfrage kurzfristig, wird als erstes dasjenige Kraftwerk zugeschaltet, welches zu den niedrigsten variablen Kosten produzieren kann – wobei die variablen Kosten jenen Teil der Gesamtkosten ausmachen, der von der Menge des produzierten Guts abhängt. Umgekehrt wird bei abnehmender Nachfrage als erstes dasjenige Kraftwerke mit den höchsten variablen Kosten abgeschaltet. Diese «Merit-Order» genannte Reihenfolge erlaubt es, Kraftwerke ökonomisch effizient einzusetzen, vorausgesetzt, dass keine relevanten Engpässe im Netz existieren und sich die einzelnen Kraftwerke schnell ein- und abschalten lassen (was z.B. bei Kohle- und Nuklearkraftwerken nur bedingt der Fall ist). Langfristig verbleiben diejenigen Anbieter im Markt, die ihre Kraftwerke über genügend Betriebsstunden im Jahr mit einer positiven Differenz zwischen aktuellem Strompreis und den variablen Erzeugungskosten betreiben können, so dass ihre Investitions- und weitere Fixkosten mindestens gedeckt sind.

Einspeisevergütung als vermeintlicher Sündenbock
Wie die nachfolgende Grafik schematisch zeigt, liegen die variablen Kosten von Pumpspeicherkraftwerken (blau) im Durchschnitt derzeit zwar etwas unter den Braunkohlekraftwerken (satt gelb), diejenigen von Gaskraftwerken (satt grün) weit darüber [2], [3]. Die Braunkohlekraftwerke laufen praktisch rund um die Uhr und definieren so den durchschnittlichen Marktpreis. Interessanterweise haben neue erneuerbare Energien wie die Photovoltaik und die Windenergie praktisch keine variablen Kosten, womit sie nach der Marktlogik (Merit-Order) Vorrang bei der Einspeisung haben. Die Erneuerbaren weisen aber vergleichsweise sehr hohe Investitionskosten auf, die wiederum für die hohen Gestehungskosten etwa des Solarstroms bestimmend sind. Die Differenz zum – heute sehr tiefen – Marktpreis (a2) wird über die Einspeisevergütung gedeckt. Ähnlich sieht es bei den Pumpspeicherwerken aus, deren Gestehungskosten ebenfalls viel höher sind als der aktuelle Marktpreis. Das bedeutet, dass sie ihre Investitionskosten bei der kleinen positiven «Marge» (b1) zwischen Marktpreis und eigenen variablen Kosten und der begrenzten Anzahl Betriebsstunden pro Jahr nicht amortisieren können; sie wären also ebenfalls auf Subventionen angewiesen.

Das gängige Erklärungsmuster für die erwähnte problematische Marktsituation prangert die Einspeisevergütung für Photovoltaik an, die die viel höheren Gestehungskosten dieser Technologie subventioniert und somit den Markt «kaputt macht» – auch in der Schweiz durch den Eintrag aus Süddeutschland. Die bisher über Mittag gewinnbringend betriebenen Pumpspeicherkraftwerke werden somit unrentabel, was langfristige Investitionen in Frage stellt. Das gleiche gilt für moderne Gaskraftwerke, die so ebenfalls nicht rentieren, da auch sie nicht auf genügend Betriebsstunden im Jahr kommen. Kohlekraftwerke hingegen rentieren beim aktuell tiefen Marktpreis, weil sie praktisch rund um die Uhr laufen und ihre Investitionen oft weitgehend abgeschrieben sind.

Wo liegt der Kern des Problems?
Ein völlig anderes Bild ergibt sich, wenn man die variablen Kosten der fossilen Kraftwerke um einen angemessenen Preis für das ausgestossene CO2 erhöht, genannt externe CO2-Kosten (in der Grafik matt grün und matt gelb, geschätzt zwischen 50 und 100 Euro pro Tonne CO2 statt heute rund fünf Euro pro Tonne). Bei Werten im oberen Bereich dieser Bandbreite (siehe [4] für die Sensitivität) weisen Braunkohlekraftwerke mitunter die höchsten variablen Kosten auf, teilweise sogar höhere als die Gaskombikraftwerke. In dieser Betrachtung lassen wir die Kernenergie ausser Acht, da ihr Anteil im mitteleuropäischen Bilanzraum abnimmt und Schätzungen über ihre externen Kosten weit auseinander liegen.

Mit dieser Internalisierung externer CO2-Kosten ist auch ein viel höherer Preis für Grundlaststrom zu erwarten. Damit werden einerseits umweltschonende Technologien wie die Pumpspeicherung wieder wettbewerbsfähig, da eine höhere Marge zwischen Marktpreis und variablen Kosten entsteht, und andererseits tendiert aus dem gleichen Grund der Bedarf nach Quersubventionierung der Photovoltaik für neue grössere Anlagen gegen Null, womit die Einspeisevergütung unnötig würde. Dies gilt natürlich nur sofern der Solarstromeintrag die aktuelle Nachfrage nicht übersteigt.

Viel zu billiger Kohlestrom
Dass diese Argumentation stichhaltig ist, zeigt sich darin, dass die im zeitlichen Mittel eingespeisten Mengen an Solarstrom noch viel zu niedrig sind, um die Wasserkraft und sogar moderne Gaskraftwerke zu gefährden. Demgegenüber beträgt der Beitrag der Kohle allein zur Stromerzeugung in Deutschland um die 50 Prozent. Betragsmässig und vom Prinzip her ergibt sich die Marktverzerrung vor allem durch die unvollständige Kostenrechnung der Kohlekraftwerke und nur in geringem Ausmass durch die Einspeisevergütung für die Solarenergie.

Weiterführende Informationen
[1] Verband Schweizer Elektrizitätsunternehmen, “Internationaler Handel mit Strom, Grünstrom-Zertifikaten und Emissionsrechten,“ Oktober 2013, www.strom.ch

[2] P. Konstantin, “Praxisbuch Energiewirtschaft: Energieumwandlung, -transport und -beschaffung im liberalisierten Markt“, Springer Vieweg, Berlin, 2013.

[3] U.S. Energy Information Administration, “Levelized Cost and Levelized Avoided Cost of New Generation Resources in the Annual Energy Outlook 2014”, April 2014, www.eia.gov

[4] M. Ammon, “Einfluss der CO2-Zertifikatspreise auf die Stromgestehungskosten im deutschen Energiemix”, Zeitschrift für Energiewirtschaft, vol. 38, no. 1, pp. 37–46, 2014.

©Text: Prof. Konstantinos Boulouchos, ETH Zürich, Beitrag erschienen im ETH Zukunftsblog

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