Bei Projektabbruch müssten die Stadtwerke die Kosten für die 3-D-Sismik und die Bohrkosten durch Auflösung der Reserven abschreiben. Als Abschreibungshilfe steht die Bohrloch-Risikogarantie des Bundes zur Verfügung. ©Fotos: T. Rütti

V.l.n.r. Marco Huwiler, Leiter Geothermie der Stadtwerke SG, Prof. Stefan Wiemer, Direktor Schweizerischer Erdbebendienst SED, Stadtrat Fredy Brunner: News für Schweizer und ausländische Medien.

Geothermie St.Gallen: Aufgegeben wird nicht, jedenfalls nicht schon heute

(©TR) Grosser Medienaufmarsch am Dienstagnachmittag im St. Galler Rathaus. Auch ausländische Medienleute wollten wissen, was der Stadtrat nach dem Erdbeben im St. Galler Sittertobel bezüglich der Zukunft des Geothermie-Projektes entschieden hat. Er will es weiterzuführen, wenn auch mit Vorbehalten.


Zur Erinnerung: In der Früh des 20. Juli 2013 kam es in der Region St. Gallen zu unerwarteten Erschütterungen mit einer Magnitude von bis zu 3,5. Zuvor war in der Vorbereitung zum planmässigen Fördertest unerwartet Gas im Bohrloch aufgetreten. Dieses verursachte einen Druckanstieg im Bohrloch, worauf das Gas mit Wasser und schwerer Bohrspülung wieder zurückgepresst wurde. Die Bohrarbeiten wurden daraufhin per sofort eingestellt. Wie Prof. Stefan Wiemer vom Schweizerischen Erdbebendienst SED gegenüber den Medien erklärte, liegt die Nachbebensequenz bei bereits mehr als 620 Erdbeben.

10- bis 20-prozenitge Wahrscheinlichkeit
«Die Nachbebensequenz kann sich noch über Monate oder gar Jahre hinziehen, wenn auch mit stetig abnehmender Intensität. Die Wahrscheinlichkeit eines weiteren spürbaren Bebens in den nächsten zwölf Monaten liegt bei 10 bis 20 Prozent, die eines weiteren Bebens der Magnitude 3.5 oder sogar noch stärker bei 1 bis 3 Prozent.» Relativ zum eingepressten Volumen Wasser und dem dabei angewandten Druck sei die Reaktion des St. Galler Untergrundes «ungewöhnlich heftig» gewesen, heftiger jedenfalls als seinerzeit in Basel. Die Erklärung dafür liege wahrscheinlich darin, dass man in St. Gallen eine «kritisch vorgespannte aktive Verwerfungszone» angebohrt habe.


Verwerfungszone entspricht nicht den ursprünglichen Annahmen
«Diese Verwerfungszone ist, anders als ursprünglich angenommen, seismisch aktiv. Dadurch erhöht sich das seismische Risiko für die Erstellung und den Betrieb eines Hydrothermalsystems wesentlich. Die Gasproblematik ist eine zusätzliche Herausforderung, die vorher nicht bedacht wurde.» Es ist laut SED-Direktor Wiemer momentan noch unklar, wie gross und wie zusammenhängend die betreffende Verwerfungszone ist, wie tief sie sich in den Untergrund erstreckt und in welchen Bereichen sie möglicherweise kritisch vorgespannt ist. Ein Produktionstest sei nach Ermessen des SED an sich weniger gefährlich als eine erneute Injektion unter hohem Druck. «Eine verlässliche Quantifizierung der Wahrscheinlichkeit eines weiteren, spürbaren Erdbebens bzw. eines Schadenbebens ist momentan nicht möglich», erklärte Prof. Wiemer. Diese Wahrscheinlichkeit müsste sich seiner Meinung nach aber durch sanftes Vorgehen und frühzeitiges Abbrechen eines Produktionstestes bei unerwartetem Auftreten von Mikrobeben deutlich reduzieren lassen.

Detaillierte Abklärungen aufgrund neuer Ausgangslage

Während der letzten fünf Wochen haben verschiedene Expertenteams Gutachten erstellt, erörterten Marco Huwiler, Leiter Geothermie der Sankt Galler Stadtwerke, und Stadtrat Fredy Brunner (Direktion Technische Betriebe). Anschliessend hätten sich die Projektverantwortlichen mit den involvierten Bewilligungsbehörden und Partnern ausgetauscht, um die Entscheidungsgrundlage zum weiteren Vorgehen zu schaffen. Parallel zur Auswertungsphase habe das Bohrteam vor Ort Massnahmen zur Bohrlochstabilisierung ergriffen und routinemässige Wartungsarbeiten an der Bohranlage durchgeführt.

Erkenntnisse zu Erschütterungen und Gasvorkommen

«Die Arbeiten im Rahmen des Geothermie-Projektes St. Gallen haben die Erschütterungen lediglich ausgelöst, nicht aber erzeugt. Die Aktivitäten im Bohrloch haben das System jedoch aus seinem ohnehin schon labilen Gleichgewicht gebracht. Und die kritisch gespannten Trennflächen in der Erdkruste und die darin gespeicherte Bruchenergie sind nach heutigem Kenntnisstand bereits vor Projektbeginn vorhanden gewesen», lautete Marco Huwilers Statement. «Der Stadtrat hat soeben beschlossen, die erste Bohrphase abzuschliessen und nun weitere Informationen zu sammeln», so Stadtrat Brunner. Folgende Massnahmen sollen sodann schrittweise vorbereitet und eingeleitet werden:

  • Datengewinnung Während der Stabilisierungsarbeiten des Bohrlochs im Juli musste eine Messsonde gekappt werden. Diese hat wichtige Daten zu den Druck- und Temperaturverhältnissen gespeichert. Diese Daten sollen ein wesentlich besseres Verständnis der Ereignisse ermöglichen. Die Messsonde wird nun mit speziellen Fangarbeiten geborgen.

  • Langfristige Stabilisierung Das Bohrloch wird nachgebohrt und aufgespült. Dadurch wird es vom vorübergehend eingefügten Verstopfungsmaterial befreit. Zur langfristigen Stabilisierung der letzten Bohrstrecke wird ein perforiertes Rohr eingebaut.

  • Produktionstest Zur optimalen Nutzung der Wärme aus der Tiefe ist eine Wasserfördermenge von 50 Litern pro Sekunde notwendig. Erst mit dem Produktionstest sind weitere Erkenntnisse über die Wasser- und Gasvorkommen im Untergrund möglich.

  • Konservierung und Analyse Das Bohrloch wird provisorisch verschlossen, kann aber jederzeit wieder geöffnet und genutzt werden. So können die Projektverantwortlichen die Risiken, das Erschliessungskonzept sowie die finanziellen Aspekte ohne zeitlichen Druck neu beurteilen und mögliche Projektanpassungen beschliessen.

Projektabbruch jederzeit möglich
Obwohl die Druckschwankungen bei den anstehenden Bohrlocharbeiten so gering wie möglich gehalten werden, können weitere Erschütterungen leider nicht vollständig ausgeschlossen werden. Sollten ausserordentliche Ereignisse eintreten, behält sich der Stadtrat vor, jederzeit vom geplanten Vorgehen abzuweichen und das Projekt zu stoppen. Dazu muss man wissen, dass dem Geothermie-Projekt der Volksentscheid von Ende November 2010 mit einem Rahmendkredit von 159 Mio. Franken zu Grunde liegt. Der Businessplan sieht die Refinanzierung der Projektkosten durch die Fernwärmeversorgung vor.

Bohrloch-Risikogarantie des Bundes
Bei einem allfälligen Projektabbruch müssten die Stadtwerke die Kosten für die so genannte 3-D-Sismik und die aufgelaufenen Bohrkosten durch Auflösung der Reserven (ca. 70 Mio. Franken) abschreiben. Als zusätzliche Abschreibungshilfe steht die Bohrloch-Risikogarantie des Bundes zur Verfügung. Laut Stadtrat Brunner betragen die maximalen Abschreibungen der Stadtwerke für 3D-Seismik und Bohrung bei Projektabbruch 45 Mio. Franken. Die bisherige Kosten für seismische Messungen und Vorbereitung betragen 10 Mio; die für Bohrung GT-1 und Vorbereitung 29.5 Mio. Franken. Somit hat das Projekt bis heute 40.0 Mio. Franken gekostet. Die Bohrlochrisiko-Garantie beträgt geschätzte 12 Mio. Franken. Die «maximale Projektreserve» beläuft sich laut Stadtrat Brunner bis zum allfälligen Projekt-Abbruch auf 15 Mio. Franken.

Imageschaden blieb aus
Bevölkerung, Region, Kanton und Bund hat laut Stadtrat Fredy Brunner stets positiv reagiert. Es sei im Strudel der veränderten Risikosituation auch zu einer neuen Wahrnehmung des Risikos und zu mehr Respekt gegenüber dem Projekt gekommen. «Zwischen Risiken und den hohen Erwartungen ist dem Stadtrat der Entscheid zur Fortführung des Projektes nicht leicht gefallen. Nun haben wir die Chance, weiterzufahren, was in einem anderen Umfeld nicht möglich gewesen wäre. Wir sind uns der besonderen Verantwortung sehr wohl bewusst.» Alle hätten insgeheim auf die nun erlebte Solidarität gehofft, sagte Fredy Brunner. Die Stadt habe sich übrigens keine Vorwürfe anhören müssen, sondern sei vielmehr mit Ermutigungen bedacht worden. Auch sei der von St. Gallen so sehr befürchtete Imageschaden ausgeblieben.

©Text: Toni Rütti, Redaktor ee-news.ch

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